Adam Szymczyk und die documenta 14
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Adam Szymczyk - Hörspiel von "COSMO Radio po polsku" auf Deutsch
Politische Thematiken als Auswahlkriterium für Kunst
Da die Ausstellung in Athen und Kassel völlig gleichberechtigt stattfinden sollte, war de facto eine Splittung des ursprünglich für Kassel vorgesehenen Etats erforderlich. Für das Erarbeiten der Schau berief Szymczyk ein Team aus internationalen Kuratoren, Pierre Bal-Blanc, Hendrik Folkerts, Hila Peleg, Dieter Roelstraete und Monika Szewczyk. 2016 kamen Paul B. Preciado, Candice Hopkins und Bonaventure Soh Bejeng Ndikung als Freier Kurator (Curator at Large) hinzu. (Abb. 4) Die in Athen lebende Kuratorin und Autorin Marina Fokidis ernannte er zur Leiterin des dortigen künstlerischen Büros. Fokidis, 2003 Kuratorin des Griechischen Pavillons der Biennale von Venedig, 2011 der dritten Thessaloniki Biennale of Contemporary Art sowie Gründerin und künstlerische Leiterin der Kunsthalle Athena, ist Herausgeberin der halbjährlich in Griechenland in englischer Sprache erscheinenden Zeitschrift für Kunst und Kultur, South as a State of Mind. Vier Ausgaben dieser Zeitschrift mit jeweils weit über 200 Seiten waren bzw. sind vom Herbst/Winter 2015 bis zum Sommer 2017 ausschließlich Beiträgen zur documenta 14 gewidmet. Sie bilden neben dem „documenta 14 Reader“ und einem rund 300 Seiten starken „documenta 14 Daybook“ mit monographischen Beiträgen über sämtliche Künstler die publizistische Grundlage der Ausstellung.
Das Magazin South as a State of Mind, das, wie Szymczyk schreibt, „literarische Genres, Archivdokumente, Auftragsessays und spezielle Beiträge von Künstler_innen, Dichter_innen, Komponist_innen und anderen umfasst, entwickelte sich als Teil des Prozesses der documenta 14, statt ihm einfach nur zu folgen“. Die dort erschienenen Beiträge sollten mit der Behandlung von assoziativen Begriffspaaren wie beispielsweise Vertreibung und Enteignung, Stille und Masken, Sprache und Hunger, Gewalt und Opfer gesellschaftspolitische Felder anreißen wie Kolonialismuskritik, indigenes Wissen, Feminismus, postqueere Politik und so weiter,[18] denen – um es verkürzt zu sagen – Künstler für die Ausstellung zugeordnet werden konnten. Um sich alle in der Ausstellung behandelten gesellschaftspolitischen Felder wie beispielsweise auch Flucht und Vertreibung oder Raubkunst und Restitution zu erarbeiten, kommen die Rezipienten, also die Besucher und Kritiker der Ausstellungen in Athen und Kassel, nicht umhin, das gesamte vorliegende Textmaterial zu studieren oder sich diese Thematiken aus den gezeigten Kunstwerken und Aktionen selbst zu erschließen.
Andere Themen wie etwa das Gegensatzpaar Armut und Großzügigkeit werden in der Ausstellung durch historische Kunst belegt, in diesem Fall durch ein Werk von Gustave Courbet (1819-1877) aus der Epoche des französischen Realismus. Begleitet wird dies von einem Essay der amerikanischen Kunsthistorikerin Linda Nochlin in der ersten Ausgabe von South as a State of Mind.[19] Wer jedoch ein repräsentatives Gemälde von Courbet als Beleg erwartet, wird in der Ausstellung enttäuscht und muss in der Kasseler Neuen Galerie mit einem kleinen Bleistiftentwurf des Malers, „L’Aumône d’un mendiant à Ornans“ (dt. Almosen eines Bettlers in Ornans, 1868), aus einer entfernten amerikanischen Sammlung vorlieb nehmen. Insgesamt ist festzustellen, dass nicht die Kunst, sondern das intellektuelle Konzept des künstlerischen Leiters und des Kuratorenteams bei dieser Documenta im Vordergrund steht. Insgesamt sind neben rund 150 zeitgenössischen Künstlerinnen und Künstlern Werke von 105 historischen oder im 20. Jahrhundert und in den zurückliegenden Jahren verstorbenen Künstlern in der Ausstellung vertreten, die dieses Konzept belegen sollen.[20] Die documenta 14 ist also vorderhand keine Schau aktueller zeitgenössischer Kunst sondern ein intellektuelles Konstrukt.
[18] Ebd., S. 37
[19] Linda Nochlin: Representing Misery: Courbet’s Beggar Woman, South as a State of Mind, #6 (= Documenta 14, #1), Herbst/Winter 2015, Seite 197-206
[20] Künstlerlisten, deutlich in lebende und historische bzw. verstorbene Künstler getrennt, finden sich auf der Webseite der documenta 14, http://www.documenta14.de/en/public-exhibition/ . Sämtliche Künstlernamen sind zu den in Athen und Kassel gezeigten Werken mit kurzen Essays über Künstler und Werk verlinkt. Im „documenta 14 Daybook“ sind nur die lebenden Künstler enthalten.