Waren sie wirklich „Rebellen“? Zur Münchner Ausstellung „Stille Rebellen. Polnischer Symbolismus um 1900“
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Wer mit festgefügten und über Jahrzehnte geprägten Vorstellungen über die Bildwelt des „Symbolismus in Europa“, so der Titel der frühen und zentralen Ausstellung zu diesem Thema 1975/76 in Baden-Baden, Rotterdam („Het symbolisme en Europa“), Brüssel und Paris („Le symbolisme en Europe“), in die Münchner Ausstellung über den „Polnischen Symbolismus um 1900“ kommt, muss dazulernen. Die polnische Variante dieser Stilrichtung umfasst, wenn man die ausgestellten Gemälde zurate zieht, eine breite Zeitspanne von 1875 bis 1918 und zeigt teilweise Bildthemen und Malstile, die man in Deutschland, aber auch in Frankreich und Großbritannien nicht unter dem Begriff „Symbolismus“ einordnen würde. Zunächst verwundert die starke Präsenz des Historienmalers Jan Matejko am Beginn der Ausstellung, den wir doch gerade 2018/19 in der Bonner Bundeskunsthalle und teilweise mit denselben Bildern als einen der europäischen „Malerfürsten“ kennen gelernt haben.[1] In München repräsentiert er jedoch zusammen mit Wojciech Gerson die Vorläufer jener Kunstschaffenden, die als „polnische Symbolisten“ gegen die Historienmalerei und die mit ihr verbundenen politischen Auffassungen opponierten.
Kaum jemand würde also in einer Ausstellung zum „europäischen“ Symbolismus die in München gezeigte „Japanerin“ (1908, Abb. 10 . ) von Józef Pankiewicz vermuten oder die Nachtansicht der „Ludwigsbrücke in München“ (1896/97, Abb. 8 . ) von Aleksander Gierymski, dann die an Franz von Lenbach geschulte, auf freiem Feld liegende Ukrainerin unter dem Titel „Altweibersommer“ (1875) von Józef Chełmoński (Abb. 7 . ), die von Prinz Eugens schwedischen Landschaften beeinflusste „Wolke“ (1902, Abb. 13 . ) von Ferdynand Ruszczyc, den an Édouard Manet erinnernden „Jungen in Gymnasiastenuniform“ (um 1890) von Olga Boznańska oder die folkloristischen Figurenszenen (1891–1895) von Włodzimierz Tetmajer und Teodor Axentowicz (Abb. 21 . , 22 . ) um nur einige Beispiele in der Münchner Ausstellung zu nennen. Dass hier etwas anders ist, lassen auch die Vorworte und einführenden Texte des Katalogs vermuten, in denen von der „Bewegung des sogenannten ‚Jungen Polen‘“[2] und der „ersten derart umfänglichen Schau zur Malerei des Jungen Polen in Deutschland“[3], aber wenig bis gar nicht vom Symbolismus die Rede ist. Ob nun der „polnische Symbolismus“ und die Kunst des „Jungen Polen“ kongruent sind oder das eine Teil des anderen ist, darüber erfährt man nichts. Im einführenden Saaltext zur Ausstellung fehlen sogar beide Begriffe. Auf der Suche nach belastbaren Definitionen wird man sich also älterer Literatur zuwenden müssen.
Aus deutscher Sicht beschrieb Jost Hermand schon 1959 (und in zweiter Auflage 1972) den Symbolismus als „spätromantische, mit gewissen impressionistischen Elementen angereicherte Strömung“ der Malerei unmittelbar zur Wende zum 20. Jahrhundert, in der „spiritistisch-okkultistische Elemente“ mit einer „bewussten Gegnerschaft zum positivistischen Materialismus“ überwogen. Angeregt durch spiritistische Geheimbünde und einen Hang zum „Unheimlichen und Unerklärlichen“ entstand ein „mysteriöser Symbolismus“, dem unter den Einflüssen der Franzosen Pierre Puvis de Chavannes, Odilon Redon, Eugène Carrière und Gustave Moreau, des Belgiers James Ensor und dem Frühwerk des Norwegers Edvard Munch in Deutschland vor allem Arnold Böcklin mit seinen allegorischen Fabelwesen, der Münchner Franz von Stuck und Max Klinger mit seinem Spätwerk, in Belgien Fernand Khnopff und in Italien Giovanni Segantini angehörten und von denen Werke ab 1895 in der Berliner Kunst- und Literaturzeitschrift Pan veröffentlicht wurden.[4] Ähnlich beschrieb Hans H. Hofstätter 1965 (und in der zweiten Auflage 1973) den Symbolismus „als betonte und aggressive antibürgerliche, manchmal sogar antimoralische Kunst“ mit wiederkehrenden Versuchen „den positivistischen Realismus der bürgerlichen Weltanschauung und Weltordnung zu durchbrechen“.[5] Er kennzeichnete die Ästhetik des Symbolismus mit den Stichworten „Pessimismus“ und „Perversion“ und dessen Bildwelten mit den Themen „Kosmischer Symbolismus“, „Tod und Eros“, „Traumerlebnis“, „Der Mensch als Maske“, „Symbolgestalten des Weibes“, „Fetischismus“ und „Satanismus“.
[1] Malerfürsten, Ausstellungs-Katalog Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Katalogkonzept: Doris Lehmann und Katharina Chrubasik, München: Hirmer 2018; vergleiche dazu auf diesem Portal den Beitrag „Malerfürst“ Jan Matejko in der Bundeskunsthalle, https://www.porta-polonica.de/de/atlas-der-erinnerungsorte/malerfuerst-jan-matejko-der-bundeskunsthalle
[2] Roger Diederen: Vorwort, in: Ausstellungs-Katalog Stille Rebellen 2022, Seite 8
[3] Barbara Schabowska: Grußwort, ebenda, Seite 11; ähnlich Albert Godetzky/Nerina Santorius: Einleitung, ebenda, Seite 14
[4] Kapitel Symbolismus, in: Richard Hamann/Jost Hermand: Stilkunst um 1900 (Epochen deutscher Kultur von 1870 bis zur Gegenwart, Band 4 [1959, 1972]), Frankfurt am Main 1977, Seite 289–304
[5] Hans H. Hofstätter: Symbolismus und die Kunst der Jahrhundertwende. Voraussetzungen, Erscheinungsformen, Bedeutungen [1965], 2. Auflage, Köln 1973, Seite 9, 23