Die Ruhrpolen
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Die „Ruhrpolen“ - Hörspiel von "COSMO Radio po polsku" auf Deutsch
Einleitung
Um eine Vorstellung davon zu erhalten, wie eng die genealogische Verwandtschaft zwischen Deutschen und Polen ist – zumal der Bevölkerung an Rhein und Ruhr – genügt ein Blick in das zweibändige Lexikon der Familiennamen polnischer Herkunft im Ruhrgebiet. Die Autoren dieses Werkes stellten allein auf der Grundlage von Telefonbüchern der Jahre 1994 bis 1996 im Ruhrgebiet mehr als 30.000 polnische Familiennamen fest. Darin unberücksichtigt bleiben sowohl deutsche Varianten polnischer Nachnamen und durchgeführte Namensumwandlungen bzw. germanisierte Formen ursprünglich polnischer Nachnamen als auch die sich hinter den einzelnen Telefonbucheinträgen verbergenden Familienangehörigen und Personen ohne Telefonanschluss bzw. mit verborgener Rufnummer im besagten Zeitraum.[1]
Den Hintergrund für diese enge Verwandtschaft bilden mehrere westwärts gerichtete Migrationsphasen aus Gebieten mit ethnisch polnischer Bevölkerung bzw. eines polnischen Staates seit Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die heutige Zeit, von denen die umfassendste zwischen 1870 und Anfang der 1920er Jahre in das rheinisch-westfälische Industriegebiet stattfand. Bei dieser unter dem Oberbegriff Ost- bzw. Landflucht bezeichneten Migrationsbewegung handelte es sich anders als bei den zur gleichen Zeit stattfindenden und ebenfalls bei den benannten Migrationsprozessen zu verortenden überseeischen Auswanderungen um eine Binnenmigration innerhalb Preußens bzw. des Deutschen Reiches – die Auswanderer waren preußische Staatsangehörige, die ihren Arbeits- und Lebensort auf Grundlage des Reichsgesetzes zur Freizügigkeit von November 1867 frei wählen durften. Laut Berechnungen von Forschern, die auf Grundlage von preußischen Statistiken vorgenommen wurden, wanderten in diesem Zeitraum bis zu einer halben Million polnischstämmige bzw. -sprachige Menschen aus den ländlich geprägten preußischen Ostprovinzen in das Industriegebiet an Rhein und Ruhr aus.[2] Neueste Untersuchungen und Gegenüberstellungen von einzelnen Auswandererzahlen aus bestimmten Regionen, unter anderem Oberschlesien, sowie die Ungenauigkeit und bisweilen gezielte Manipulation der preußischen Statistiken und die darin nicht abgebildete hohe Fluktuation von Zu-, Rück- und Weiterwanderungen deuten allerdings auf eine wesentlich höhere Zahl an Personen hin, die um 1900 zumindest über einen gewissen Zeitraum an Rhein und Ruhr weilten und arbeiteten.[3]
Zu je etwa einem Drittel stammten die Migranten, für die sich in der Forschung der Begriff Ruhrpolen etabliert hat, aus den Provinzen Posen und Ostpreußen, hier vor allem aus den Masuren (polnischsprachige Protestanten),[4] und dem ebenfalls größtenteils polnischsprachigen, jedoch katholisch geprägten, südlichen Ermland. Neben diesen beiden größten Gruppen kamen jeweils mehrere Zehntausend Zuwanderer aus Westpreußen samt der Kaschubei sowie aus der Provinz Schlesien, hier vor allem aus dem südlichen Teil des Regierungsbezirks Oppeln (polnischsprachige, katholische Oberschlesier). Ursächlich für diese Migrationsbewegungen waren vor allem wirtschaftliche Faktoren. Das im 19. Jahrhundert an Dynamik gewinnende Bevölkerungswachstum führte zur Überbevölkerung in den ländlichen Herkunftsregionen, die zudem industriell nur schwach oder gar nicht erschlossen waren (mit Ausnahme Oberschlesiens) und vor allem jungen Männern nur wenige Arbeitsmöglichkeiten, schlechte Existenzbedingungen und kaum Lebensperspektiven boten.[5]
[1] Rymut, Kazimierz/Hoffmann, Johannes (Hgg.): Lexikon der Familiennamen polnischer Herkunft im Ruhrgebiet, 2 Bände, Kraków 2006, S. XXXV–XXXVI.
[2] Vgl. u.a. Murzynowska, Krystyna: Die polnischen Erwerbsauswanderer im Ruhrgebiet während der Jahre 1880–1914, Dortmund 1979, S. 25–26. Auch weitere Wissenschaftler, wie Witold Matwiejczyk oder Valentina-Maria Stefanski, berufen sich auf Murzynowskis Ausführungen und preußische Statistiken.
[3] Skrabania, David: Keine Polen? Bewusstseinsprozesse und Partizipationsstrategien unter Ruhrpolen zwischen der Reichsgründung und den Anfängen der Weimarer Republik, S. 45–47 (noch unveröffentlichte Dissertationsschrift, Bochum 2018, Manuskript einzusehen bei Porta Polonica).
[4] Zur Gruppe der Ruhrpolen gehörten auch die Masuren, die aufgrund ihrer Spezifik im weiteren Verlauf dieses Textes außen vor bleiben. Die Umstände und Ursachen des Migrationsprozesses der Masuren an Rhein und Ruhr wiesen große Ähnlichkeiten mit denjenigen aus den übrigen preußischen Ostprovinzen auf. Auch bei ihnen handelte es sich um eine polnischsprachige und slawische Bevölkerung, die zwar seit dem 17. Jahrhundert politisch in das Königreich Preußen integriert wurde, jedoch sogar bis ins 20. Jahrhundert hinein ihre Eigenarten beibehielt, etwa im Hinblick auf einen stark mit Elementen des Katholizismus durchsetzten Protestantismus oder die gesprochene Mundart – einen altpolnischen Dialekt. Im rheinisch-westfälischen Industriegebiet sonderten sich die Masuren häufig sowohl von den übrigen polnischsprachigen Migranten, als auch von der deutschsprachigen Mehrheitsgesellschaft ab. Zumindest partiell erleichterten ihre Konfession und eine grundsätzliche königstreue preußische Gesinnung die Integration und Assimilation der Masuren im rheinisch-westfälischen Industriegebiet. Zwei Faktoren scheinen dabei jedoch eine wichtigere Rolle gespielt zu haben: Erstens bot das agrarisch geprägte, sehr dünn besiedelte und wirtschaftlich überaus schwache Masuren kaum Möglichkeiten zur Rückkehr und zum Bestreiten der Existenz, zweitens wurden Dutzende masurische Dörfer mit der Migration an Rhein und Ruhr de facto aufgelöst oder Gemeinden erlitten herbe Bevölkerungsverluste, da sich häufig komplette Dorfgemeinschaften mitsamt Prediger auf den Weg in den Westen machten. Für einen großen Teil der Masuren war damit eine Rückkehr bereits zum Migrationszeitpunkt oder kurz danach praktisch ausgeschlossen. Vgl. Kossert, Andreas: Masuren. Ostpreußens vergessener Süden, Berlin 2001; Jasiński, Grzegorz: Mazurzy w drugiej połowie XIX wieku. Kształtowanie się świadomości narodowej, Olsztyn 1994.
[5] Kleßmann, Christoph: Polnische Bergarbeiter im Ruhrgebiet 1870–1945. Soziale Integration und nationale Subkultur einer Minderheit in der deutschen Industriegesellschaft, Göttingen 1978, S. 24–27.