Die Ruhrpolen
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Die „Ruhrpolen“ - Hörspiel von "COSMO Radio po polsku" auf Deutsch
Anfänge der Migrationsbewegung
Zu Beginn der 1870er Jahre kamen nachweislich die ersten Gruppen polnischer Arbeiter in das Ruhrrevier, konkret nach Bottrop. Bei ihnen handelte es sich um gelernte Bergleute aus Oberschlesien, deren Durchschnittsalter bei knapp 30 Jahren lag und die dem Mangel an erfahrenen Arbeitskräften in den neu in Betrieb genommenen Zechen des Ruhrgebiets abhelfen sollten.[6] Nach einigen Jahren konnte der Bedarf an ausgebildeten Bergleuten vornehmlich durch Absolventen der westfälischen Bergschulen gedeckt werden. Der allgemeine Arbeitskräftebedarf war jedoch weiterhin nicht durch Zuwanderung aus den Grenzregionen Westfalens oder aus weiter entfernt liegenden deutschsprachigen Regionen, wie etwa dem Hunsrück, zu decken, daher drängten Zehntausende junge Männer – zum Teil noch minderjährig – aus den ostpreußischen ländlichen Regionen in das rheinisch-westfälische Industrierevier zwecks Arbeitsaufnahme in den hiesigen Zechen und Industriebetrieben. Die Mutigeren, die sich aus den Dörfern im Osten Preußens auf den Weg machten, waren die Vorbilder und die „großen Helden“ für die nachfolgenden Generationen, denen sie den Weg in den Westen ebneten: „Hatte man (die) 20 Mark [für ein Eisenbahnticket, Anm. d. Aut.] beisammen, fuhr man nach Westfalen. Die jüngeren warteten, bis sie 16 Jahre alt waren, um nach Westfalen aufzubrechen und ‚das große Geld‘ zu machen.“[7] Denn wurden die ersten Bergarbeiter noch fast ausschließlich von professionellen Werbern zur Arbeit an die Ruhr angeworben, so etablierte sich nach nur wenigen Jahren parallel dazu die Anwerbung neuer Arbeitskräfte durch Mundpropaganda in den Heimatdörfern der Pionierwanderer, über einen regen Briefwechsel zwischen Ziel- und Herkunftsorten sowie über Familienangehörige, Nachbarn oder Bekannte der ersten Zuwanderer. Dieses weit über den soziologischen Fachbegriff der Kettenwanderung hinausgehende Migrationsmuster lässt sich am besten mit dem Begriff der Pionierwanderung umschreiben.
Ermöglicht wurden die Massenmigrationen durch das seit Mitte des 19. Jahrhunderts immer dichter werdende Eisenbahnnetz in Mittel- und Mittelosteuropa. Mit der Einführung der 4. Klasse wurden die Fahrkarten erschwinglich und die Eisenbahn förderte die Mobilität der Massen in einer nie zuvor dagewesenen Art und Weise. Die Kosten für eine Fahrkarte für die zweitägige Reise von einem Bahnhof in den Ostprovinzen nach Westfalen entsprachen etwa dem Wochenlohn eines einfachen Bergarbeiters und wurden häufig von Familienangehörigen, Bekannten oder den einstellenden Zechen vorgestreckt.[8] Das rheinisch-westfälische Industriegebiet wurde zum Sehnsuchtsort für Abertausende junge Männer (und mit der Zeit auch Frauen), die nicht nur nach einer Existenzsicherung, sondern auch nach einem besseren Leben strebten: „Manch junger Mensch, voll Wanderdrang nach reicheren Ländern […] besann sich nicht lange, sondern machte sich auf in das Land seiner Sehnsucht. Lobeshymnen für dieses unbekannte Land schossen aus seinem Munde; jeder Pole in Posen oder Schlesien, der sich in beklagenswerter Lage befand, empfand beim Hören solcher Lobpreisungen große Freude und gleichfalls Verlangen nach diesem glücklichen Land.“[9]
[6]Vgl. Budraß, Lutz: Von Biertultau (Biertułtowy) nach Batenbrock. Oberschlesier in Bottrop, in: Budraß, Lutz/Kalinowska-Wójcik, Barbara/Michalczyk, Andrzej (Hg.): Fallstudien zur Geschichte des oberschlesischen Industriereviers im 19. und 20. Jahrhundert, S. 124–127.
[7]Hurski, Ludwik: Z pamiętnika Westfaloka, hrsg. und mit einer Einführung versehen von Henryk Olszar (Źródła do dziejów Kościoła Katolickiego na Śląsku, Nr. 5, Red. Jerzy Myszor), Katowice 2014, S. 39 [Übersetzung: David Skrabania].
[8]Kurek, Jacek: Kolej i tożsamość . Kilka sugestii ze Śląskiem i Galicją w tle, in: Keller, Dawid (Hg.): Znaczenie kolei dla dziejów Polski. Studia z historii kolejnictwa, Rybnik 2012, S. 16; Hurski: Z pamiętnika, S. 45–48.
[9]Geschichte einer polnischen Kolonie in der Fremde. Jubiläumsschrift des St. Barbara-Vereins in Bottrop, Oberhausen 1911 (Kirche und Religion im Revier. Beiträge und Quellen zur Geschichte religiöser und kirchlicher Verhältnisse im Werden und Wandel des Ruhrgebiets, 1968; Übersetzung aus dem Jahre 1954, S. 1–2.