Die Ruhrpolen
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Die „Ruhrpolen“ - Hörspiel von "COSMO Radio po polsku" auf Deutsch
Remigration in das wiedererstandene Polen – zwischen erfolgreicher Wiedereingliederung und Ernüchterung
Als nach Kriegsende 1918 ein polnisches Staatswesen wiedererrichtet wurde, kam es zu Rückwanderungsprozessen in die nun fast gänzlich polnisch gewordenen Heimatgebiete der Ruhrpolen. Sie erfassten etwa ein Viertel der in den Jahrzehnten zuvor an Rhein und Ruhr ausgewanderten polnischen Bevölkerungsschichten, also ca. 150.000 Personen. Angetrieben von der allgemeinen Euphorie kündigten viele Rückwanderer ihre Arbeitsstellen und gaben ihre Wohnungen auf. Viele Menschen waren sich einerseits über die tatsächliche Lage im gerade in der Entstehung begriffenen polnischen Staat nicht im Klaren und vertrauten häufig viel zu sehr auf die Versprechen nationaler polnischer Aktivisten, die in den Jahrzehnten zuvor Hoffnungen auf ein wirtschaftlich prosperierendes Polen geweckt hatten, in dem den zurückkehrenden Ruhrpolen eine führende Rolle zuteilwerden sollte. Die Wirklichkeit sah vielfach anders aus: nicht nur Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot erwarteten viele Ruhrpolen, sondern auch die ablehnende Haltung der eingesessenen bzw. aus anderen Landesteilen zugewanderten Bevölkerung, die in den Rückkehrern von Rhein und Ruhr Konkurrenten um die knappen Arbeitsplätze und Wohnungen sah. Auch die polnische Regierung war sich über die bestehenden Probleme im Klaren und versuchte unter anderem über das Konsulat in Essen, die Kontrolle über die Rückkehrerzahlen zu gewinnen und sie einzudämmen, nicht zuletzt, um ein Gegengewicht zu der nun großen Minderheit der Deutschen in Polen zu schaffen – die Ruhrpolen wurden zu einem Spielball der großen Politik.[45]
In der Tat führten Nachrichten über die Lage in Polen, Informationsveranstaltungen und Rückmeldungen der Rückkehrer bei Familienangehörigen, Bekannten und Nachbarn an Rhein und Ruhr zu einem Abebben der Rückkehrbewegungen.[46] Um die Rückkehr nach Polen bzw. den Verbleib im Westen Deutschlands in geregelte, international akzeptierte Bahnen zu lenken und den potenziellen Rückkehrern Rechtssicherheit zu bieten, wurde ein Optionsverfahren beschlossen. In den Artikeln 91 und 278 des Versailler Vertrages wurden die rechtlichen Grundlagen zu Option und Staatsangehörigkeit fixiert. Die Möglichkeit zur Option sollte am 22.01.1922 enden.[47] Nach der Option für Polen blieben den Optanten zwölf Monate Zeit, um Deutschland zu verlassen, danach konnte eine Zwangsausweisung erfolgen. Persönliches bewegliches Hab und Gut konnte zollfrei über die Grenze gebracht, Immobilienbesitz behalten werden. Nutzte ein Optionsberechtigter seine Optionsmöglichkeit nicht und blieb in Deutschland, wurde er durch Unterlassung deutscher Staatsangehöriger, ging er allerdings ohne zu optieren nach Polen und wurde polnischer Staatsangehöriger, verlor er seine zugesicherten Rechte, unter anderem die Rentenansprüche.[48] Aufgrund fehlender Akten aus dem Konsulat in Essen ist nur schwer rekonstruierbar, wie viele Menschen von ihrem Optionsrecht Gebrauch gemacht haben, allerdings gehen Schätzungen davon aus, dass die Optionsentscheidung nicht mehr als 75.000 Personen – also Optionsberechtigte plus Familienangehörige – betraf.[49]
Häufig war ein im Ruhrrevier entwickeltes polnisches Nationalbewusstsein die Triebfeder für die Rückkehrentscheidung. Allerdings reichte dies keinesfalls aus, um eine erfolgreiche und nachhaltige Rückkehr nach Polen in die Tat umzusetzen. Anhand der Untersuchung konkreter Beispiele können folgende notwendige Faktoren benannt werden, die ebenfalls erfüllt sein mussten: 1. Wirtschaftliche Unabhängigkeit, d.h. die Rückkehrer waren zumindest in den ersten Jahren nach ihrer Auswanderung nach Polen durch Ersparnisse finanziell abgesichert; 2. Immobilienbesitz, d.h. die Rückkehrer besaßen durch Kauf oder Erbe Haus und/oder Hof und waren nicht auf eine kommunale Wohnungszuteilung angewiesen; 3. Selbstständige Tätigkeit, etwa durch den Besitz von Ackerland oder Vieh und/oder eine (gleichzeitige) Tätigkeit in einem Bergwerk (in Oberschlesien)/Industriebetrieb, in Handel/Handwerk oder als Staatsbedienstete (etwa bei der Polizei); 4. Vorhandene Netzwerke, also Familienstrukturen oder Nachbarn, die Unterstützung und Schutz boten.[50]Waren einer oder gar mehrere dieser Faktoren nicht gegeben, konnte es infolge von Arbeitslosigkeit und des Abdriftens in die Armut auch zu Erschütterungen des zuvor entwickelten Nationalbewusstseins kommen, was im Extremfall zur erneuten Ausreise in den Westen Deutschlands und teils zur Weiterwanderung in belgische, französische oder niederländische Industriereviere führte. Bisweilen wurden aufgrund der allgemeinen Ernüchterung ob der angetroffenen Situation in Polen verbitterte Briefe an ehemalige Nachbarn an Rhein und Ruhr verfasst: „Ach, wäre es bloß möglich, würde ich am liebsten wieder nach Köln zurückkehren. Ich muss immerzu an Köln denken und würde am liebsten all unsere Sachen packen, denn dort ist es viel besser […] Wenn ich Ihnen also einen Rat geben darf, dann bleiben Sie mit ihrer Familie dort, behalten Sie ihre Arbeitsstelle und hören Sie auf, ein solch überzeugter Pole zu sein, wie es viele andere waren, denn die Polen hier machen sich nichts daraus […] Hier laufen alle traurig durch die Gegend, sie haben sich auch geirrt mit diesem Polen […].“[51]
[45] Piotrowski, Mirosław: Reemigracja Polaków z Niemiec 1918–1939, Lublin 2000, S. 134–137 und 169–170.
[46] Ebenda, S. 118.
[47] Ebenda, S. 8–9.
[48] Ebenda, S. 117–118 und 297–298.
[49] Ebenda, S. 293.
[50] Skrabania: Keine Polen?, S. 176.
[51] Zitiert nach: Piotrowski: Reemigracja, S. 203 [Übersetzung: David Skrabania].