Die Ruhrpolen
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Die „Ruhrpolen“ - Hörspiel von "COSMO Radio po polsku" auf Deutsch
Auf sozialer Ebene erkämpften sich viele ruhrpolnische Frauen durch den Anschluss an die örtlichen Rosenkranzbruderschaften und die Elisabethvereine Freiräume abseits der Familie und der häuslichen Pflichten. Diese Vereine, die in der Regel von den örtlichen Pfarrern initiiert und unterstützt wurden, waren religiös ausgerichtet und boten die Möglichkeit zu sozialen Kontakten innerhalb der sowie über die Eigengruppe hinweg und somit auch Anschluss an eine deutschsprachige weibliche Community. Polnische nationale Kreise kritisierten die Etablierung vor allem der Elisabethvereine unter den polnischstämmigen Frauen scharf, boten zugleich aber lange Zeit keine Antwort darauf – polnisch-national ausgerichtete Frauenvereine entstanden erst kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges.[40] Die Kritik nationaler polnischer Kreise an den ruhrpolnischen Frauen nahm mit den wachsenden Tendenzen zur Akkulturation an die einheimische (deutsche) Gesellschaft, mit dem Streben nach Teilhabe und sozialem Aufstieg sowie dem Desinteresse an der nationalen Sache mit der Zeit stark zu: „Leider muß man zugeben, daß unsere Frauen und besonders die polnischen Mädchen geradezu das polnische Buch verachten […] Andere entäußern sich der Muttersprache aus dem Grunde, weil sie von der sogen. deutschen ‚Feinheit‘ überzeugt sind.“[41]
Nachdem man sich in nationalen polnischen Kreisen dessen gewahr geworden war, dass sich die Tendenzen zu Integration und Akkulturation auch auf die nachfolgenden Generationen auswirkten, wurde die Kritik an den ruhrpolnischen Frauen und Müttern, die in den Argumentationsmustern nationaler Aktivisten als Garant für die Entwicklung eines polnischen Nationalbewusstseins und das Fortbestehen der Nation in der Pflicht standen, grob und schroff: „Wie elend sieht es aus, wenn eine Mutter, die kein Wort Deutsch versteht, sich freudig dessen rühmt, daß ihre Kinder zu Hause nur deutsch sprechen. [Was] kann man von einer solchen Familie jemals, wenn auch nur einen kleinen Funken Liebe zu dem, was uns teuer und edel ist, erwarten? […] Auf einer guten Kindererziehung beruht die Macht der nationalen Wiedergeburt.“[42]
In der Tat waren nach drei oder vier Jahrzehnten des Zuzugs Akkulturations- und Assimilationstendenzen unter den Ruhrpolen unverkennbar. Zahlreiche Kinder und bisweilen sogar Enkelkinder der Auswanderer waren bereits an Rhein und Ruhr geboren worden und kannten die Heimat ihrer (Groß-)Eltern nur von Besuchen oder Erzählungen. Laut einer preußischen Geburtenstatistik wurden bis zum Jahr 1914 79.000 Kinder in polnischstämmige Familien in Westfalen hineingeboren.[43]Die tatsächliche Zahl mag aufgrund der eingangs geschilderten Problematik mit den preußischen Statistiken noch weitaus höher gelegen haben. Im Verlauf der Zeit und vor dem Hintergrund der sinkenden reellen Chance auf eine Rückkehr in die Heimat stellten sich zahlreiche Ruhrpolen auf den Verbleib im Westen Deutschlands ein und handelten dementsprechend. Dies wirkte sich unter anderem negativ auf die sprachlichen Fähigkeiten der nachwachsenden Generationen aus, was nationale Aktivisten geradezu zur Weißglut trieb: „Wir wissen, daß zugleich mit dem Schwinden der Sprache die Nation untergeht […] Das ist einem jeden Polen bekannt und doch – wie viele tausend polnische Kinder entarten nicht Jahr für Jahr. Wir beklagen uns mit Recht über die Bedrückung durch die Preußen, wir weisen auf die barbarischen Forderungen der Polenfresser hin. Noch größere Feinde sind indessen die polnischen Eltern, die in eine Verdeutschung ihrer Kinder willigen.“[44]
[40] Puhl, Bertinus: Die polnischen Vereine im rheinisch-westfälischen Industriegebiet und die katholischen Seelsorger, Freiburg i. Br. 1918 (Kirche und Religion im Revier. Beiträge und Quellen zur Geschichte religiöser und kirchlicher Verhältnisse im Werden und Wandel des Ruhrgebiets, 1968), S. 48; StA Hattingen, SHC01-397, Übersetzungen…, Nr. 11, Jg. 1913, Kindererziehung – Deutsche Bücher – Elisabethvereine, in: Narodowiec, Nr. 57, 10. März 1914.
[41] StA Hattingen, SHC01-395, Übersetzungen…, Bericht über den Verlauf der am 27. April 1913 in Dortmund, Hirtenstr. 17, im Saale des Wirts Tobien stattgefundenen öffentlichen Polenversammlung.
[42] Stadtarchiv Hattingen; SHC01-398 Polnischer Wahlverein 1911–1928; Abschrift, Übersetzungen…, Nr. 24, Jahrgang 1911 vom 9. Juni 1911, Denken wir an unsere Kinder!, in Postemp, Nr. 130 vom 9. Juni 1911.
[43] Wachowiak: Polacy, S. 36.
[44] StA Recklinghausen, Übersetzungen…, Nr. 5, Jg. 1910, Wer gräbt Polen das Grab?, in: Wiarus Polski, Nr. 25, 1. Februar 1910, Bl. 215–216.