Janina Musiałczyk. W drodze, unterwegs
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Schatten an der Wand
„Heiligabend. Die Oblate. Auf dem großen Tisch alles so wie immer und eine Ananas. Stundenlang sitze ich am Tisch und zeichne Steine.“ Drei Monate zuvor, im Oktober 1981, hatten Janina Musiałczyk, ihr Ehemann und ihre Tochter wieder einmal eine neue, vorübergehende Unterkunft im zweiten Stock eines Hochhauses in Hamburg-Steilshoop bezogen.
Die Häuser seien schöner gewesen als die in der Siedlung Zgierska Stefana im polnischen Łódź, von wo die Familie im Mai 1981 zu einer Odyssee über Schweden nach Deutschland aufgebrochen war, schreibt die Künstlerin in ihrem Buch „Zeichnungen und Texte“. In der Wohnung in Steilshoop zu siebt mit einer anderen Familie zu leben, war geradezu ein Trost in der fremden, neuen Welt, „sieben Metallbetten, sieben Kissen, sieben Decken, sieben Bettlaken, sieben Stühle, ein Tisch und sieben Handtücher“. Im Esszimmer mit der rosafarbenen, geblümten Tapete verbrachten sie viele Stunden. Auf dem Küchenfußboden liefen in der Nacht die Kakerlaken. Von einer unbekannten Spenderin erhielten sie zu Weihnachten ein Paket. Am 13. Dezember hatte in Polen das Regime von General Jaruzelski das Kriegsrecht ausgerufen. Seitdem hörte die Familie Tag und Nacht die in München produzierten Sendungen der polnischen Sektion von Radio Free Europe.[1]
Wohnungen sind für Janina Musiałczyk ein fundamentaler Ausdruck der menschlichen Existenz. Sie empfand die Wohnung der Eltern, angemietete Zimmer, vorübergehende Unterkünfte und längerfristige Wohnsitze einerseits als Behausungen und Rückzugsorte, andererseits als Adressen des Übergangs, als Stationen verschiedener Lebensalter oder als Fluchtpunkte. Wohnungen verkörpern für sie Orte der Ankunft und des Abschieds, des Wartens auf die Eltern oder den Geliebten. Sie fungieren als Arbeits- und Kreativräume, sind Ausdruck des sozialen Stillstands oder Stufen zu Wohlstand und Glück. Wohnungen werden zu Plätzen der Angst und verändern sich zu Orten, an denen Feste gefeiert werden. Sie vermitteln Sicherheit und Hoffnung auf eine bessere soziale und gesellschaftliche Zukunft. Ehemalige Unterkünfte werden für die Künstlerin zu Ankern der Erinnerung.
Sie beginnt den Reisebericht durch ihr Leben, den sie 2001 in Hamburg in ihrem Künstlerbuch „Zeichnungen und Texte“ niedergeschrieben hat und der von Wohnung zu Wohnung führt, 1946 in einem Hinterhaus im polnischen Pabianice. Da war sie drei Jahre alt und ihre Großmutter lag auf dem Bett in der Zimmermitte unter einer weißen Decke im Sterben.[2]
Im Jahr darauf zog die Familie nach Łódź in die ul. Bednarska: „Vierter Stock, Zimmer mit Küche. Auf demselben Stockwerk gegenüber die Waschküche mit einem riesigen Kessel für weiße Kochwäsche. […] Ich bin allein zu Haus … Ich zwänge mich in den Spalt zwischen Ofen und Wand und warte, bis meine Eltern von der Arbeit zurückkommen. Am Samstag nach dem großen Wäschewaschen das Bad. Zuerst Ela, danach ich, wir klettern hinauf in den riesigen Kessel und schwelgen in dem warmen Wasser.“[3]
Schon bald folgte ein weiterer Umzug. 1948 wohnte die Familie in der ul. Dygasińskiego: „Erdgeschoss, zwei längliche Durchgangszimmer und eine kleine quadratisch geschnittene Küche. […] Aus dem Schlafzimmerfenster sieht man das Haus an der ul. Bednarska, von dem Schornstein hängt ein roter Morgenmantel herunter. Er ist eine Frau, die sich das Leben genommen hat. […] In dieser Wohnung ist es eng. Ich suche nach einem Platz für mich.“[4]
1964 zog die erwachsene Janina, inzwischen 20 oder 21 Jahre alt, in das leer gewordene Zimmer in der Wohnung einer Schulfreundin. Im Jahr darauf wechselte sie in eine kleine helle Stube bei zwei alten Damen. Sie studierte nun seit acht Semestern an der Kunstschule in Łódź. Nachts entwarf sie Seidentücher für ein Unternehmen, das Schals, Tücher und Krawatten produzierte. Am Wochenende kam ihr Verlobter aus Warschau zu Besuch. Im folgenden Jahr mieteten beide zusammen ein acht Quadratmeter großes Zimmer zur Untermiete mit Küchen- und Badbenutzung unweit des Parks in der Altstadt: „Der Schrank, das Sofa, der kleine Tisch, zwei Stühle und Papiere, Rollen, Leinwände, Farben, Pinsel.“[5]
1967 zogen sie ein paar Straßen weiter in die erste richtige Wohnung: „Wir streichen alles dunkelblau an: den kleinen quadratischen Tisch, die Sessel, den Schrank im Flur, auch die Türen und Fenster. […] Hier auf diesen einundzwanzig Quadratmetern mache ich mein Diplom, verkaufe das erste Bild. Hier feiern wir Partys. Joanna bringt aus dem Grandhotel große Vorspeisenplatten.“[6] Bald wurde ihre Tochter geboren.
[1] Janina Musiałczyk: Rysunki i teksty. Zeichnungen und Texte, Typographie: Iga Bielejec, Selbstverlag, Hamburg 2001, Seite 36.
[2] Ebenda, Seite 4.
[3] Ebenda, Seite 6.
[4] Ebenda, Seite 8.
[5] Ebenda, Seite 14.
[6] Ebenda, Seite 16.