Die Ruhrpolen
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Die „Ruhrpolen“ - Hörspiel von "COSMO Radio po polsku" auf Deutsch
Ruhrpolnisches Vereinswesen zwischen nationaler polnischer Einflussnahme und behördlicher Diskriminierung
Ähnlich gelagert war die Entwicklung des ruhrpolnischen Vereinswesens. In Reaktion auf fehlende soziale Strukturen und aufgrund des Bedürfnisses nach Kommunikation und Freizeitgestaltung außerhalb der Arbeitswelt entstanden seit 1877 innerhalb der ruhrpolnischen Community eigene Vereine. Zwischen 1885 und 1893, als das Paderborner Bistum nacheinander die Pfarrer Józef Szotowski und Franciszek Liss für die Polenseelsorge an Rhein und Ruhr abstellte, nahmen die Vereinsgründungen unter Anleitung der beiden aus Westpreußen stammenden polnischen Priester stark zu und erhielten einen explizit religiösen Charakter, was sich u.a. in der Vereinssymbolik und der Wahl von Heiligen zu Schutzpatronen der Vereine widerspiegelte. Politische Betätigung war in den Vereinen ausgeschlossen, sie dienten neben religiösen Zwecken der Hebung der Volksmoral und Sittlichkeit, der Traditionspflege und boten ihren Mitgliedern überdies Schutz und Unterstützung:[17]„Die Vereine richteten den Emigranten auf, verschafften ihm etwas Abwechslung von der Eintönigkeit des Alltags und seinem schweren Los. Und ganz besonders der Industriearbeiter braucht mehr denn irgendjemand seelischen Beistand, da ihn der monotone Alltag ansonsten in eine Maschine verwandeln würde.“[18]
Über viele Jahre hinweg wiesen die polnisch-katholischen Vereine einen regionalen Charakter mit Rückbezug auf die Herkunftsregion ihrer Mitglieder auf. So konnte im St. Barbara-Verein zu Schalke nur Mitglied werden, wer gemäß Paragraf 2 der Vereinssatzung „ein unbescholtener oberschlesischer Arbeiter katholischer Religion“ war.[19]Selbst wenn dieses, eine bestimmte regionale Herkunft voraussetzende Element nach und nach aus den Satzungen der Vereine verschwand, so blieben sie aufgrund der oben beschriebenen Siedlungsstrukturen in den einzelnen Bezirken des Ruhrreviers dennoch häufig weiterhin stark regional geprägt. Mit der Abberufung von Pfarrer Liss als polnischem Seelsorger 1893 und der Übernahme der von ihm gegründeten und geleiteten Zeitung „Wiarus Polski“ durch Jan Brejski, einem polnischen Verleger und Politiker, wurde der nationale polnische Charakter der Vereine immer stärker betont. Nationale Eliten versuchten, ihren Einfluss auf die Vereine auszuweiten, etwa über die Abhaltung von Vorträgen und Lesungen zur Geschichte und Kultur Polens oder durch die Organisation von Feierlichkeiten unter nationalen Vorzeichen, wie beispielsweise „Kościuszko-Feiern” oder die Begehung des Jahrestages der Konstitution vom 3. Mai. Der katholische Charakter der Vereine sollte zu einem Bestandteil nationaler polnischer Identität herabgestuft werden.[20]
Mitunter trugen diese Bemühungen Früchte und unter einem Teil der ruhrpolnischen Zuwanderer begann sich ein nationalpolnisches Bewusstsein zu entwickeln, das die bestehenden lokalen, regionalen und religiösen Bewusstseinsinhalte überformte. Von erheblicher Bedeutung war dabei auch die Tatsache, dass vor allem die polnischen Vereinsstrukturen zum Ziel diskriminierender Maßnahmen vonseiten der preußischen Behörden wurden. Nachdem die Erfahrungen von Bismarcks Kulturkampf im Allgemeinen und die Abberufung der polnischen Seelsorger Szotowski und Liss auf Betreiben preußischer Behörden im Speziellen das Misstrauen der Ruhrpolen gegenüber staatlichen Institutionen verstärkt hatten, führten immer umfangreichere polizeiliche Überwachungsmaßnahmen der Sitzungen ruhrpolnischer Vereine seit den späten 1890er Jahren zu Konsolidierungstendenzen unter der ruhrpolnischen Bevölkerung. Das behördliche, gegen die polnischen Strukturen gerichtete Vorgehen fand in der Schaffung der „Zentralstelle für die Überwachung der Polenbewegung“ – der sogenannten Polenüberwachungsstelle – 1909 in Bochum ihren vorläufigen Höhepunkt. Nicht einmal mehr den Satzungen der Vereine, die eine politische Betätigung ausschlossen, wurde mehr Glauben geschenkt: „Obwohl nach den Satzungen dieses Vereins Politik nicht getrieben werden soll, ist anzunehmen, daß er, wie die übrigen Polenvereine, für die polnische Nationalsache in auffälliger Weise Anhänger werben wird.“[21]
[17] Matwiejczyk, Witold: Zwischen kirchlicher Integration und gesellschaftlicher Isolation. Polnische Katholiken im Ruhrgebiet von 1871 bis 1914, in: Dahlmann, Dittmar/Kotowski, Albert S./Karpus, Zbigniew (Hgg.): Schimanski, Kuzorra und andere. Polnische Einwanderer im Ruhrgebiet zwischen der Reichsgründung und dem Zweiten Weltkrieg, Essen 2005, S. 13–14.
[18] Wachowiak, Stanisław: Polacy w Nadrenii i Westfalii, Poznań 1917, S. 108 [Übersetzung: David Skrabania].
[19] STAM-RA I Nr. 124, zitiert nach: Brandt: Die Polen, S. 61.
[20] Skrabania: Keine Polen?, S. 79–82.
[21] StA Recklinghausen, AA1723, Der Landrat zu Recklinghausen an die Ortsbehörden des Kreises vom 15. März 1909, Bl. 157.