Waren sie wirklich „Rebellen“? Zur Münchner Ausstellung „Stille Rebellen. Polnischer Symbolismus um 1900“
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Wojciech Gerson, der nach seinem Studium in St. Petersburg, Warschau und Paris in Warschau reüssierte und ab 1872 als Professor an der Warschauer Zeichenklasse/Klasa rysunkowa tätig war, beschäftigte sich als Historienmaler mit ähnlichen Themen wie Matejko. Wie dieser sah er in der Kunst eine Aufgabe, die „Pflichten gegenüber dem eigenen Land“ und die Vermittlung „edler Ideen“ und „geistiger Schönheit“ zum Ausdruck zu bringen.[30] Von Matejko sind in der Münchner Ausstellung die Gemälde „Der blinde Veit Stoß mit seiner Enkelin“ (1864, Abb. 4 . 2. von rechts), „Das Innere des Grabmals von Kasimir dem Großen“ (1869) sowie das Selbstbildnis aus dem Jahr vor seinem Tode zu sehen, die alle bereits in Bonn ausgestellt waren.[31] Außerdem ist der detailliert ausgeführte Karton „Das Aufhängen der Sigismund-Glocke im Domturm zu Krakau im Jahr 1521“ von 1874 zu sehen (Abb. 1 . ). Das Gemälde „Stańczyk“ (1862, Abb. 2 . ) zeigt den Hofnarren während eines Balls im Schloss Sigismunds des Alten (1507–1548), wie er (mit Matejkos eigenen Gesichtszügen) über die politische Situation und die Zukunft Polens nachdenkt. Gerson ist mit einem Selbstporträt, ebenfalls einer Szene zu Veit Stoß (Abb. 4 . rechts) und mit dem 2009 aus dem Auktionshandel für das Nationalmuseum Stettin/Muzeum Narodowe w Szczecinie erworbenen Gemälde „Ohne Land. Pomoranen, von den Deutschen auf die baltischen Inseln vertrieben“ von 1888 vertreten, welches in Komposition, Motiven und Dramatik dem „Floß der Medusa“ (1819) von Théodore Géricault nachempfunden ist (Abb. 3 . ).
„Stille Rebellen“, das bezeichnet nach dem Verständnis der Münchner Ausstellung vor allem die „neue Generation junger polnischer Künstler“, die sich von der akademischen Historienmalerei abwandte, den Patriotismus und die Verpflichtung der Kunst gegenüber der Gesellschaft hinterfragte und die künstlerische Freiheit in den Vordergrund stellte. Für diesen Gegensatz und den Aufbruch in die neue Zeit stehen zu Beginn der Ausstellung Leon Wyczółkowski, Schüler von Gerson und Matejko, und Matejkos Schüler Malczewski, die sich in ihren Bildthemen deutlich vom Historismus ihrer Lehrer distanzierten: Wyczółkowski zeigt einen verzweifelten „Stańczyk“ (1898), der die Mitglieder der traditionellen polnischen Gesellschaft als Spielpuppen auf einem Wandbord hinter sich aufgereiht hat. In den Gemälden von Malczewski, „Die Inspiration des Malers“ (1897, Abb. 36 . ), „Teufelskreis (1895–1897, Abb. 5 . ) und „Der Traum des Malers“ (um 1888), erscheinen traditionelle polnische Themen, darunter die versklavte Polonia, in Trachten gekleidete Menschen sowie Gefangene oder Getötete aus den früheren Aufständen und Kriegen als Traumgebilde und geisterhafte Erscheinungen, die die Zerrissenheit des Künstlers zwischen historischer Last und künstlerischer Freiheit symbolisieren. Wyczółkowski und Malczewski stehen hier, so der Saaltext, für die „Malerinnen und Maler des Jungen Polen“, die „eine neue symbolistische Bildsprache“ etablierten. Spätestens an dieser Stelle wäre eine deutliche Definition und Abgrenzung der Begriffe „Symbolismus“ und „Junges Polen“ wünschenswert gewesen.
Einen breiten Überblick über Künstlerpersönlichkeiten und die stilistische Vielfalt ihrer Zeit gibt Agnieszka Bagińska im zweiten Kapitel der Ausstellung unter der Überschrift „Zwischen Paris und St. Petersburg“ (Saaltext: „Im Dialog mit der europäischen Kunst“, Abb. 6 . ). Aufgrund der besonderen politischen Situation, die in allen drei Teilungsgebieten durch eine mehr oder minder starke Unterdrückung der polnischen Kultur geprägt war, neigten die polnischen Kunstschaffenden – meist nach einer ersten und durchaus gründlichen Ausbildung in Krakau und Warschau – dazu, ihr Studium in anderen europäischen Kunstzentren, meist in Paris, München, Wien oder St. Petersburg, fortzusetzen oder sogar ganz ins Ausland zu emigrieren. Sie nahmen polnische Themen und Malstile dorthin mit und entwickelten diese weiter, bildeten polnische Künstlergruppierungen, schlossen Freundschaften mit den ortsansässigen Künstlerinnen und Künstlern, wurden von diesen beeinflusst und stellten ihre neu geschaffenen Werke weiterhin in Polen aus. Insofern bietet die polnische Kunst eine lebendige Facette der europäischen Kunstentwicklung von herausragender Qualität. „Erst im Wissen um das Nebeneinander und die Verflechtung der verschiedenen Strömungen entsteht ein umfassendes und vielgestaltiges Bild der europäischen Kunst an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert“, resümiert Bagińska zurecht.[32]
[30] Bagińska 2022 (vergleiche Anmerkung 26), Seite 24 f.
[31] Zwei der Abbildungen auf diesem Portal, siehe Anmerkung 1
[32] Agnieszka Bagińska: Zwischen Paris und St. Petersburg. Polnische Künstler und die europäische Kunst um 1900, in: Ausstellungs-Katalog Stille Rebellen 2022, Seite 57