Waren sie wirklich „Rebellen“? Zur Münchner Ausstellung „Stille Rebellen. Polnischer Symbolismus um 1900“
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Bei den in diesem Raum gezeigten Bildnissen von Boznańska ist hingegen nicht immer eine Verbindung zum Symbolismus zu erkennen. Ihr 1891 in München oder Krakau entstandenes Bildnis einer unbekannten Dame (Abb. 28 . ) orientiert sich wie andere ihrer Damenporträts, bei denen allein das Gesicht und die Hände gegen das Schwarz der Kleider, der Hüte und der Frisuren stehen, an Bildnissen von James McNeill Whistler,[58] den sie offensichtlich schätzte.[59] Von Whistler waren 1888 zahlreiche Bilder auf der III. Internationalen Kunstausstellung im Münchner Glaspalast zu sehen, auf der auch Boznańska mit einer „Studie“ vertreten war. Allein der in den Händen gehaltene, kurz vor dem Verblühen stehende Rosenzweig steht symbolisch zur Porträtierten in einer Beziehung, die jedoch über die Funktion eines traditionellen Attributs nicht hinausgeht. Nicht nur Whistler mit dessen reicher Palette an Grautönen, sondern auch Manet mit Figuren, die vor einem reinen Farbraum stehen,[60] dienten Boznańska als Anregung für ihren „Jungen in Gymnasiastenuniform“ (um 1890),[61] wobei ohnehin infrage steht, ob es sich bei diesem Bild um ein (privat oder die Öffentlichkeit interessierendes) Porträt oder um ein (natürlich nach dem lebenden Modell gemaltes) idealtypisches Figurenbild handelt. Doch Bilder können, je nach der Zeit, in der man sie betrachtet, auch unterschiedlich interpretiert werden. Boznańskas „Mädchen mit Chrysanthemen“ (1894),[62] das uns heute ohne tiefere Bedeutung erscheinen mag, veranlasste den Schweizer Kunstkritiker William Ritter 1896 zu einem Vergleich mit den Figuren des symbolistischen Schriftstellers Maurice Maeterlinck: „Es ist ein rätselhaftes Kind, das jeden, der es zu lange ansieht, in den Wahnsinn treibt. Wie eine sechsjährige Mélisande […] erscheint dieses unheimliche, blonde und so bleiche Mädchen, dass es einen erschaudern lässt.“[63] Auch die Verbindung zum Gemälde „Innocentia“ von Franz von Stuck,[64] auf dem eine Heranwachsende eine weiße Lilie als Zeichen der Unschuld vor sich her trägt und das 1889 im Münchner Glaspalast für Furore sorgte, ist offensichtlich.
Das achte Kapitel der Ausstellung, „Die ‚nackte Seele‘“,[65] könnte eine thematische Vertiefung des vorangegangenen bedeuten, zumal auch diese Sektion zwei Porträts zeigt: das geisterhafte Selbstbildnis des gerade an die Krakauer Akademie aufgenommenen Malers Gustaw Gwozdecki (1900)[66] und das Porträt des Krakauer Malers Antoni Procajłowicz als „Melancholiker (Totenmesse)“ (1898, Abb. 29 . ) von Wojciech Weiss. Im Bildtitel knüpft Weiss eine Verbindung zu der Erzählung „Totenmesse“ (1893) von Przybyszewski, die bereits Edvard Munch („Der Schrei“, 1893) inspirierte. Weiss, der mit dem Dichter in engem Austausch stand, zeigt den „Melancholiker“, der sein unbewusstes Inneres erforscht und Erlösung in ungezügelter Sexualität findet, symbolisiert durch die Hände in seinem Schritt.[67]
Vor allem aber zeigt dieser Teil der Ausstellung Gemälde, die rauschhaft-dionysische Seelenzustände symbolisieren, „Rausch der geschlechtlichen Ekstase, mit ihrer geheimnisvollen, dämonischen Gewalt, Rausch der Dämmerung und schwüler Sommernächte […] Rausch der ekstatischen Begeisterung und dionysischer Raserei, der Sehnsucht und des Schmerzes“, wie Przybyszewski 1892 in seinem Essay „Chopin und Nietzsche“ in der Reihe „Zur Psychologie des Individuums“ schrieb. Vor allem Weiss und Podkowiński folgten der Forderung von Przybyszewski nach einer „neuen Kunst als Wiedergabe von Seelenzuständen“[68]: „Kunst ist […] die Nachbildung des Lebens der Seele in allen ihren Äußerungen, unabhängig davon ob sie gut oder böse, hässlich oder schön sind“, schrieb dieser 1899 in seinem literarischen Manifest „Confiteor“ in der von ihm geleiteten Krakauer Zeitschrift Życie.
Weiss zeigt in seinem Gemälde „Besessenheit“ (1899/99, Abb. 30 . ) eine Woge aus miteinander verschmelzenden menschlichen Körpern, in der eine Frau in blinder Ekstase einen Kopf mit den Zügen von Przybyszewski hält. „Täter- und Opferrolle“, so Santorius in ihrem Katalogbeitrag, weisen auf eine „Dämonisierung der weiblichen Sexualität“ als „Gemeinplatz der Epoche, deren Geschichte Przybyszewski reflektiert“.[69] Ähnlich verkörpert Podkowiński in seiner Ölskizze „Wahn“ (1893, Abb. 31 . ) eine vom Sexualtrieb umnachtete weibliche Figur, die den sie umarmenden schwarzen Hengst den Berghang hinunter in den sicheren Tod treibt. Das ausgeführte über drei Meter hohe Gemälde, das „die Ekstase des sinnlichen Rausches, die an die zerstörerische Kraft des Wahnsinns grenzt“, verkörperte, wie Wacława Milewska schreibt,[70] verursachte 1894 im Warschauer Kunstverein Zachęta nicht nur einen handfesten Skandal, da es angeblich eine unerfüllte Liebe des Malers zeigen sollte. Sondern der Künstler selbst erklomm an einem Tag der Ausstellung eine Leiter, zerschnitt das Gemälde und bekannte später, das Reißen der Leinwand habe wie ein Schrei, das Splittern des Keilrahmens wie die Knochen einer sezierten Leiche geklungen.[71] In seinem letzten Gemälde, bevor er im Alter von 28 Jahren an Tuberkulose starb, beerdigte er seine Geliebte symbolisch in einer malerischen Vision mit dem Ölbild „Trauermarsch“ (1894, Abb. 32 . ), auf dem er sich selbst in nächtlicher Szene mit deklamierender Geste zum Geschrei von Raben und dem Klang von Totenglocken einem Zug weißer Engel zuwendet, die den offenen Sarg des weiblichen Leichnams tragen. Der Bildtitel nimmt auf das gleichnamige Gedicht des romantischen polnischen Lyrikers Kornel Ujejski und dieses wiederum auf den gleichnamigen Satz einer Klaviersonate von Chopin Bezug. Chopins Musik beeinflusste nicht nur die Dichter und Literaten, wie die Widmung von Przybyszewskis „Totenmesse“ an die Fis-Moll-Polonaise Op.44 des Komponisten belegt, sondern auch die bildenden Kunstschaffenden.
[58] Vergleiche James Abbott McNeill Whistler: Arrangement in Black: The Lady in the Yellow Buskin, um 1883. Öl auf Leinwand, 248,9 × 141,6 cm, Philadelphia Museum of Art, https://philamuseum.org/collection/object/104367
[59] Vergleiche auf diesem Portal den Beitrag „Olga Boznańska – Krakau, München, Paris“, Seite 6, https://www.porta-polonica.de/de/atlas-der-erinnerungsorte/olga-boznanska
[60] Vergleiche Édouard Manet: Le fifre, um 1866. Öl auf Leinwand, 160,5 x 97 cm, Musée d’Orsay, Paris, https://www.musee-orsay.fr/en/artworks/le-fifre-709
[61] Abbildung auf diesem Portal im Beitrag über Olga Boznańska (siehe Anmerkung 59), Abb. 13
[62] Ebenda, Abb. 24
[63] Ausstellungs-Katalog Stille Rebellen 2022, Seite 221
[64] Franz von Stuck: Innocentia, 1889. Öl auf Leinwand, 68 x 61 cm, Privatsammlung Paris, vergleiche Symbolismus in Europa (siehe Anmerkung 8), Seite 222 f.
[65] Nerina Santorius: Die „nackte Seele“. Polnische Malerei des Fin de Siècle im Spiegel der Schriften Stanisław Przybyszewskis, in: Ausstellungs-Katalog Stille Rebellen 2022, Seite 205–211
[66] Abbildung auf dem digitalen Sammlungsportal des Nationalmuseums Krakau, MNK Zbiory Cyfrowe, https://zbiory.mnk.pl/pl/wyniki-wyszukiwania/katalog/97458
[67] Wacława Milewska auf dem digitalen Sammlungsportal des Nationalmuseums Krakau, MNK Zbiory Cyfrowe, https://zbiory.mnk.pl/pl/wyniki-wyszukiwania/katalog/296928
[68] Nerina Santorius 2022 (siehe Anmerkung 65), Seite 206
[69] Ebenda, Seite 207
[70] Nationalmuseum Krakau, https://zbiory.mnk.pl/pl/wyniki-wyszukiwania/katalog/143955
[71] Nerina Santorius 2022 (siehe Anmerkung 65), Seite 205