Waren sie wirklich „Rebellen“? Zur Münchner Ausstellung „Stille Rebellen. Polnischer Symbolismus um 1900“
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In München hatte sich schon seit 1828, vor allem aber nach der Unterdrückung der polnischen Aufstände von 1830/31 und 1863/64, eine über die Jahrzehnte bis zu 700 Mitglieder zählende polnische „Schule“ gebildet, deren Angehörige in ganz unterschiedlichen Stilen arbeiteten und natürlich von der lokalen Kunst beeinflusst wurden.[33] So schuf Józef Chełmoński 1875 vermutlich nach dem Vorbild von Lenbachs „Hirtenknaben“ (1860) in der Sammlung des Grafen Schack sein vom Münchner Realismus beeinflusstes Gemälde „Altweibersommer“ (Abb. 7 . ). Er wechselte noch im selben Jahr nach Paris. Ebenfalls in der Sammlung Schack wurde Adam Chmielowski durch Bilder von Arnold Böcklin inspiriert und schuf nach ihrem Vorbild italienische Stimmungslandschaften. Aus derselben Quelle wurde auch Władysław Czachórski zu seinem „Friedhof in Venedig“ (1876) angeregt. Deutlich vom Symbolismus beeinflusst malte Witold Pruszkowski zum katholischen Feiertag „Allerseelen“ (1888) ein zu Tode erschrecktes Mädchen, das auf dem Friedhof vor einem Öllämpchen kauert. Auf den Münchner Nachtansichten von Aleksander Gierymski, der sich vor und nach Zwischenstationen in Paris, wo er impressionistische Stadtveduten schuf, mehrmals und über mehrere Jahre in der bayerischen Hauptstadt aufhielt, wurde die klassische Münchner Architektur „zur Bühne für ein Spiel aus Licht und Schatten“[34] (Abb. 8 . ).
Nach einer Ausbildung in Warschau und an der Akademie in St. Petersburg gingen Józef Pankiewicz und Władysław Podkowiński 1889/90 nach Paris. Unter dem Einfluss von Claude Monet malte Pankiewicz dort in divisionistischer Technik („Heuwagen“, 1890, Abb. 9 . ), orientierte sich mit der Vereinfachung der Formen und des Bildraums an Paul Cézanne und steigerte die Farbautonomie nach dem Vorbild seines Freundes Pierre Bonnard und der Nabis. Podkowiński malte Landschaften in schillernden, ineinander verlaufenden Farben und Formen (Abb. 6 . Mitte rechts). Pankiewicz, der ab 1906 an der Krakauer Kunstakademie lehrte und seinen ausgefeilten Kolorismus an die Schülergeneration weitergab, schuf auch Gemälde in der Art des Japonismus („Japanerin“, 1908, Abb. 10 . ), ein Stil, den auch Boznańska und Leon Wyczółkowski zeitweise in Interieurs, Bildnissen und Stillleben pflegten. Wyczółkowski, der in Warschau, München und Krakau studierte und Paris mehrfach anlässlich der Weltausstellungen besuchte, übertrug die Naturerfahrungen der Schule von Barbizon und der französischen Impressionisten auf Genre- und Landschaftsmotive aus der Ukraine („Fischer“, 1891, Abb. 6 . Mitte). An der Petersburger Akademie studierten unter anderem Kazimierz Stabrowski, Ruszczyc und Krzyżanowski.
Das dritte Kapitel, „Landschaften der Trauer und der Hoffnung“ (Abb. 11 . ), ist im Sinne der Ausstellung als polnischer Sonderweg zum europäischen Symbolismus zu verstehen, welcher die künstlerische Interpretation der Landschaft sonst kaum berücksichtigt. Im geteilten und unter Fremdherrschaft stehenden Polen kam der Landschaftsmalerei, so Urszula Kozakowska-Zaucha, eine „wichtige gesellschaftliche Aufgabe im Überlebenskampf der Nation zu“. Sie sollte, „indem sie die Schönheit der polnischen Landschaft hervorhob, für den Verlust der Heimat entschädigen“. Um 1900 seien die unspektakulären Ansichten der Romantik und des Biedermeiers „symbolischen Landschaftsvisionen“ gewichen, „die nicht nur als Metapher für eine verlorene Heimat, sondern auch als malerische Reflexionen über die Welt, ihre Ordnung oder menschliche Schicksale gedeutet wurden“.[35] Als Ausdruck psychischer Befindlichkeiten und Gemütszustände dienten einzelne Motive wie windgepeitsche Bäume, ziehende Wolken, reißende Gewässer und blühende oder verdorrte Wiesen. In den Gemälden von Jan Stanisławski (Abb. 12 . ), der zwischen 1896 und 1907 die Landschaftsklasse an der Krakauer Akademie leitete, verstärkten die Leere des Landschaftsraums und eine besondere Position der Horizontlinie Gefühle von Einsamkeit und Angst.
[33] Vergleiche auf diesem Portal die Beiträge „Polnische Künstler in München 1828–1914“, https://www.porta-polonica.de/de/atlas-der-erinnerungsorte/polnische-kuenstler-muenchen-1828-1914, „Ateliers polnischer Maler in München um 1890“, https://www.porta-polonica.de/de/atlas-der-erinnerungsorte/ateliers-polnischer-maler-muenchen-um-1890, sowie die Liste von Einzelbiografien der „Münchner Schule 1828-1914“, https://www.porta-polonica.de/de/lexikon/muenchner-schule-1828-1914 mit den zugehörigen Lebensläufen in der Encyclopaedia Polonica.
[34] Bagińska 2022 (siehe Anmerkung 32), Seite 51
[35] Urszula Kozakowska-Zaucha: Landschaften der Trauer und der Hoffnung. Naturdarstellungen in der Malerei des Jungen Polen, in: Ausstellungs-Katalog Stille Rebellen 2022, Seite 77