Adam Szymczyk und die documenta 14
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Adam Szymczyk - Hörspiel von "COSMO Radio po polsku" auf Deutsch
Aus Polen sind aus dem Bereich der historischen Kunst (nur in Athen) fotografische und schriftliche Dokumente des 1994 verstorbenen Schriftstellers, Malers und Situationskünstlers Krzysztof Niemczyk (*1938 Warschau) zu sehen, der in den 1960er-Jahren mit Aktionen gegen das kommunistische Polizeiregime bekannt wurde. Władysław Strzemiński (1893-1952), eine der Schlüsselfiguren der polnischen Avantgarde, ist (nur in Kassel) mit sechs Zeichnungen aus einer größeren Serie vertreten, in der er 1940 als Augenzeuge die Deportationen von Juden durch die Nazis festhielt. An beiden Ausstellungsorten sind von ihm abstrakt-visionäre Studien zu sehen, mit denen er nach dem Zweiten Weltkrieg die Einflüsse des Sonnenlichts auf das menschliche Auge beschrieb. Von Alina Szapocznikow (1926-1973, Abb. 5a, b), die während der Nazizeit in verschiedenen Konzentrationslagern interniert war, sind in Athen und Kassel umfangreiche Konvolute ihrer Plastiken aus Polyesterharz ausgestellt, die sie seit Ende der 1960er-Jahre in Paris nach ihrer Krebsdiagnose als Ausdruck der Beschäftigung mit dem eigenen Körper schuf. Andrzej Wróblewski (1927-1957) ist an beiden Orten mit Figurenbildern von 1953 in einer frühen Form des polnischen Sozialistischen Realismus vertreten, die sich auf aktuelle Ereignisse in den Niederlanden und in Polen beziehen.
Den lebenden Künstlerinnen und Künstlern war ähnlich wie bei der 5. Berlin Biennale weitgehend freigestellt, welche bereits existierenden Arbeiten sie zeigen oder was sie neu anfertigen würden. Einige von ihnen sahen eine wesentliche Problematik darin, für die versetzt gleichzeitig stattfindenden Ausstellungen in Athen und Kassel gleichwertige und entsprechend aussagekräftige Werke auswählen bzw. produzieren zu müssen. Thailand beispielsweise ist durch den Multimedia-Künstler Arin Rungjang (*1975 Bangkok, Abb. 6) vertreten, der sich mit dem Gegensatzpaar von Demokratie und Militärdiktatur in seinem Heimatland beschäftigte. In Videoinstallationen, Zeichnungen und einem skulpturalen Werk verarbeitete er die Geschichte des nach der Abschaffung der absoluten Monarchie 1932 in Bangkok errichteten Denkmals für die Demokratie (Democracy Monument). Als Materialien dienten ihm Augenzeugenberichte und schriftliche Dokumente über den Volksaufstand gegen die Militärdiktatur im Oktober 1973, der in einem Marsch von der Thammasat-Universität zu diesem Denkmal kulminierte. Radiomeldungen über den Aufstand der Bangkoker Studenten befeuerten offenbar im November in Athen den Studentenaufstand am dortigen Polytechnikum, der das Ende der griechischen Militärdiktatur zum Ziel hatte. Rungjang zeigt im Benaki-Museum in Athen eine Videoinstallation, die die Ereignisse von 1973 in Bangkok und Athen zusammenführt („And then there were none [Tomorrow we will become Thailand]“, 2016). In der Neuen Neuen Galerie (Neuen Hauptpost) in Kassel ist von ihm die in Messing und Holz ausgeführte Replik eines der Reliefs vom Democracy Monument in Bangkok zusammen mit Zeichnungen, Gemälden und einem Video zu sehen.
Wer von den lebenden Künstlern immer neueste Arbeiten und Konzepte erwartet, muss gelegentlich umdenken. Der zweifellos beeindruckende und in Kassel wirkungsvoll vor dem Fridericianum platzierte „Parthenon of Books“ der argentinischen Konzept‑ und Performance-Künstlerin Marta Minujín (*1941 Buenos Aires, Abb. 7) war in etwas kleinerer Form schon 1983 in Buenos Aires zu sehen. Dort hatte die Künstlerin die Stahlkonstruktion nach dem Sturz der Militärjunta mit 25.000 von den Militärs verbotenen und konfiszierten Büchern angefüllt. Die neue Version wurde von der documenta 14 bei der Künstlerin in Auftrag gegeben. Auch in Kassel ist die Wirksamkeit ihrer Arbeit als Gleichnis für die Demokratie, die bekanntlich in Athen erfunden wurde, und als Symbol für Bildung durch Kunst ungebrochen: in einem Land wie Deutschland, das mit Bücherverbrennungen während der Nazizeit Erfahrung hat, in Konfrontation zu der sich auf antike Traditionen berufenden klassizistischen Architektur des Fridericianums[21] und erst recht in Bezug auf Athen als Ort der documenta 14. Die Neukonstruktion sollte mit 100.000 von der Öffentlichkeit gespendeten „verbotenen Büchern“ aller Zeiten und Völker gefüllt werden, blieb jedoch unvollendet.
[21] Das Kasseler Fridericianum wurde 1779 für die Kunstsammlung und die Bibliothek des Landgrafen Friedrich II. von Hessen-Kassel errichtet und war eines der ersten öffentlich zugänglichen Museen in Europa. 1810-13 war es als Ständepalast des Königreichs Westfalen das erste deutsche Parlamentsgebäude. Nach Beschädigungen im Zweiten Weltkrieg beherbergte es 1955 die erste Documenta und wird seitdem für Wechselausstellungen und durchgehend für die Documenta genutzt.