Adam Szymczyk und die documenta 14
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Adam Szymczyk - Hörspiel von "COSMO Radio po polsku" auf Deutsch
Athen zu Gast in Kassel
Aber auch Athen ist als Gast nach Kassel gekommen. Szymczyk hat der Direktorin des EMST, Aikaterini Koskina, und ihren Kuratorinnen das Fridericianum überlassen, um dort eine Sammlungsauswahl des Athener Nationalmuseums für zeitgenössische Kunst zu zeigen – vermutlich deshalb, weil das Museum in Athen für die documenta 14 leergeräumt werden musste und der Etat für Kassel nicht ausgereicht hätte, um das riesige Fridericianum mit frisch kuratierter Kunst zu füllen. Aus der vermeintlichen Not wird, so das „documenta 14: Kassel Map Booklet“, der Atlas aller Kasseler Ausstellungsorte, eine Tugend: „Die nach Kassel wandernden Arbeiten bilden einen Kommentar zur komplexen Realität des heutigen Griechenlands und verweisen zugleich auf die parallelen internationalen Reisen wegweisender griechischer Künstler_innen“. Wieder einmal muss der Besucher der documenta 14, der eigentlich neueste zeitgenössische Kunst erwartet hatte, umdenken und etwas tun, was er eigentlich gar nicht wollte, nämlich ein Museum zeitgenössischer Kunst besuchen. Gleichwohl erleben er oder sie hinter dem Portikus des Museums Fridericianum, dessen Schriftzug die Istanbuler Künstlerin Banu Cennetoğlu (*1970 Ankara, Abb. 8) zu dem Motto „BEINGSAFEISSCARY“ (2017) umgestaltet hat, Werke von über 80 griechischen und wenigen internationalen Künstlerinnen und Künstlern von den 1960er-Jahren bis in die Gegenwart, die man sonst nicht zu sehen bekommen hätte.[33]
Eine der neueren Arbeiten in der Sammlung des EMST ist das im Stil einer Wandmalerei gefertigte Acrylbild „Fortunately absurdity is lost (but they haved hoped for much more)“ (2014) des Athener Malers Stelios Faitakis (*1976 Athen, Abb. 9). Es vereinigt Elemente revolutionärer Arbeiterkunst, Symbole christlich-byzantinischer Malerei und Figuren aus der heutigen Jugendkultur zu einer Allegorie der griechischen Gesellschaft. Auch Nikos Alexiou (1960-2011, Abb. 10) beschäftigt sich in seinem schon 2007 im Griechischen Pavillon der Biennale von Venedig gezeigten Video „The End“, das ein Bodenmosaik vom Kloster auf dem Berg Athos in digital erzeugte Ornamente überträgt, mit verschiedenen Zeitstufen und Einflüssen der griechischen Kultur. Das raumfüllende Objekt „Hebraic Embrace“ (1991-2005) von Lucas Samaras (*1936 Kastoria, Abb. 11) wirkt hingegen wie ein Nachhall der internationalen Minimal Art der Sechziger- und Siebzigerjahre. Es ist ein spätes Werk der Beschäftigung des Künstlers mit reflektierenden Rauminstallationen wie dem „Mirrored Room“ von 1966 in der Albright-Knox Art Gallery in Buffalo, NY, und verführt den Betrachter im doppelten Wortsinn zu Selbstbespiegelung und Selbsterkenntnis. Auch von einem Mitbegründer der etwa gleichzeitigen Arte-Povera-Bewegung, dem in Italien lebenden griechischen Künstler Jannis Kounellis (1936-2017, Abb. 12), ist ein charakteristisches, spätes Werk von 1993 vertreten. Zwischen diesen Strömungen bewegt sich eine Installation aus Seil, Neon und Eisenplatten von Yiannis Bouteas (*1941 Kalamata, Abb. 13). Eine raumfüllende Installation von Costas Tsoclis (*1930 Athen, Abb. 14) mit dem Video eines harpunierten Fischs und Projektionen nahezu unbeweglicher Personen symbolisiert die Gleichgültigkeit des Menschen gegenüber dem leidenden Tier und war so bereits 1986 auf der Biennale von Venedig zu sehen. Dimitris Alithinos (*1945 Athen, Abb. 15) und Vlassis Caniaris (1928-2011, Abb. 16) sind mit figürlichen Installationen in der Nachfolge von Kienholz, Segal oder Oldenburg vertreten. Alithinos zeigt eine Folterszene aus dem Jahr des Studentenaufstands am Athener Polytechnikum 1973, Caniaris gesichts‑ oder im doppelten Wortsinn kopflose griechische Gastarbeiter auf einem Himmel-und-Hölle-Spiel und vor dem Zusammenschnitt einer deutschen und einer griechischen Nationalfahne.
Zu den neueren Arbeiten von internationalen Künstlern in der Sammlung des EMST gehört die Videoinstallation „I, Soldier“ (2005) des in Berlin lebenden türkischen Filmemachers und Installationskünstlers Köken Ergun (*1976 Istanbul, Abb. 17), der sich mit Riten in geschlossenen sozialen Gruppen beschäftigt. In diesem Fall zeigt er die staatlich kontrollierten Zeremonien anlässlich des türkischen Nationalfeiertags aus geradezu voyeuristischer Sicht.[34] Das raumfüllende Environment „Acropolis Redux (The Director’s Cut)“ (2004) des südafrikanischen Konzeptkünstlers Kendell Geers (*1968 Johannesburg, Abb. 18) verknüpft ein archetypisches Symbol des klassischen Griechenland, die (verkleinert wiedergegebenen) Säulen des Parthenon-Tempels, mit einem „klassischen“ Symbol der Apartheid, Stacheldrahtrollen, die, so Kendell, bis heute ein südafrikanischer „Exportschlager“ sind. Belgien ist mit einer minimalistischen Arbeit des Foto‑, Video‑ und Konzeptkünstlers Danny Matthys (*1947 Zottegem, Abb. 19) von 1975 vertreten, Polen mit einer Mixed-Media-Arbeit des Bildhauers, Architekten und Stadtplaners Piotr Kowalski (1927-2004, Abb. 20) von 1970.
[33] Künstler‑ und Bildauswahl auf der Webseite des EMST: http://www.emst.gr/en/exhibitions-en/current-exhibitions-en/emst-at-documenta-14 , jedoch nicht in der Künstlerliste der documenta 14 und nicht im „documenta 14: Daybook“.
[34] Das vollständige Video auch im Internet auf youtube: https://www.youtube.com/watch?v=6B-AKStkIto