Die Kinder vom Bullenhuser Damm
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Heißmeyer, der nach dem Krieg zunächst unbehelligt blieb und in der DDR bis 1963 in einer eigenen Praxis und als Direktor der privaten Magdeburger Klinik des Westens praktizieren konnte, wurde dort am 13. Dezember 1963 verhaftet. In den Voruntersuchungen zum späteren Prozess, in denen auch Dr. Szafrański aussagte, bekannte Heißmeyer: „Ich wusste, dass das Serum giftig war und wollte aber die immunbiologischen Verhältnisse bei Menschen klären. Mir war bekannt, dass ich derartige Versuche mit einem virulenten Serum niemals an Menschen vornehmen durfte, aber andererseits wusste ich auch, dass Versuche an Meerschweinchen zwecklos waren, denn in der Natur erkranken diese Tiere nicht an Tuberkulose. Deshalb bin ich mit meinen Versuchen in ein Konzentrationslager gegangen, wo mir Versuchspersonen in genügender Zahl zur Verfügung standen und ich keine Rücksicht [zu] nehmen brauchte. Ich wusste um das Risiko meiner Versuche und um die möglichen Todesfolgen, aber ich wollte ja […] eine wissenschaftliche Arbeit veröffentlichen. […] Die Häftlinge des Konzentrationslagers Neuengamme sowie die auf meine Veranlassung im Herbst 1944 dorthin gebrachten Kinder waren für mich nur Versuchsobjekte …“[12] Nachdem Heißmeyer im Herbst 1944 erkannt hatte, dass seine Experimente Tuberkulose bei Erwachsenen durch Neuinfektionen zu heilen missglückt waren und sich der Gesundheitszustand der Häftlinge stattdessen verschlechtert hatte, brach er, wie er ebenfalls aussagte, „die Versuche ab und forderte 20 Kinder an, an denen ich mit dem gleichen Serum Versuche zur Immunisierung gegen Tbc sowie zur Feststellung einer eventuell bereits vorhandenen Immunität vornahm.“[13]
Über den Transport der Kinder am 28./29. November 1944 vom Konzentrationslager Auschwitz nach Neuengamme berichtete die Zahnärztin Dr. Haja (Paulina) Trocki-Musnicki, geboren 1905 in Kischinau, die in Belgien studierte hatte und von dort als Widerstandskämpferin nach Auschwitz deportiert worden war, in einem 1956 angefertigten Gesprächsprotokoll. Es wurde in Israel von dem aus Berlin stammenden Zeithistoriker Kurt-Jacob Ball-Kaduri für die Gedenkstätte Yad Vashem stenographiert: „Von September oder Oktober 1944 an, als er [der Krieg] schon zum Ende ging, wurden ankommende Kinder in Auschwitz nicht mehr vernichtet (oder nicht alle?). Als ich im August kam, wurden noch von meinem Transport alle Kinder beseitigt. Aber danach blieben sie leben, und Ende des Jahres waren in Auschwitz etwa 300 Kinder, in einem Block. […] Die Kinder hatten es gut, da alle Erwachsenen irgendwie für sie sorgten, d.h. alle Häftlinge. Ich wurde eines Mittags zum Lagerführer gerufen, und mir wurde gesagt, dass ich mit Kindern auf einen Transport gehen müsste, sie zu begleiten. Außer mir 3 Schwestern, davon eine Laborantin aus Ungarn. Es waren 10 Jungen und 10 Mädchen, im Alter zwischen 6 und 12 Jahren, alles Juden, aber aus den verschiedensten Ländern, zwei waren aus Paris. Ich fragte, weshalb die Kinder verschickt würden. Man sagte: alles Kinder ohne Eltern. Von den Kindern erfuhr ich, dass viele der Eltern im Arbeitslager auf Transport geschickt worden waren.“[14]
Der von SS begleitete Transport ging in einem Sonderwagen, der an einen normalen Eisenbahnzug angehängt wurde, von Auschwitz quer durch Polen über Berlin nach Neuengamme, wo er am 29. November 1944 nachts um zehn Uhr auf einem Nebengleis ankam, das direkt ins Lager führte. Auf der Fahrt sei die Verpflegung „ausgezeichnet“ gewesen, so Trocki, es habe Milch und Schokolade gegeben. Sie habe bei der Ankunft gesehen, wie jemand weinte, als er die Kinder sah. Ein belgischer Medizinstudent, der in der Apotheke arbeitete, habe gefürchtet, man werde die Kinder für Versuche benutzen. Es habe aber einen französischen Arzt gegeben, der versuchen wollte, die Kinder zu retten. Sie habe die Kinder dann aber nicht wiedergesehen. Die Kinder wurden in der bereits bestehenden Versuchsbaracke in Doppelstockliegen untergebracht. Dr. Trocki wurde später ins Frauen-Außenlager Helmstedt-Beendorf verlegt. Die drei Krankenschwestern vom Transport, darunter nach Aussage einer Zeugin zwei Polinnen, seien mit ihren wenigen Habseligkeiten „Richtung Bunker gegangen“.[15] Später berichtete ein anderer Zeuge im Neuengamme-Hauptprozess über die Hinrichtung von vier polnischen Frauen im Bunker von Neuengamme,[16] über deren Identität jedoch nichts bekannt geworden ist.
[12] Aussage Kurt Heißmeyer in Untersuchungshaft vom 20.3.1964, Akte BStU [Die Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik], MfS [Ministerium für Staatssicherheit] 8924/66, Band 152; zitiert nach: Medizinische Experimente an Häftlingen (siehe Anmerkung 10); vergleiche auch: Der Prozess gegen Dr. Kurt Heißmeyer. Dokumente, auf: Gedenkstätte Bullenhuser Damm (siehe Online), http://media.offenes-archiv.de/03_gruen_01.04.11_klein.pdf
[13] Vernehmung Heißmeyers vom 11.3.1964 in Untersuchungshaft, Blatt 108 der Gerichtsakten; zitiert nach Schwarberg: SS-Arzt 1997 (siehe Literatur), Seite 37
[14] Gesprächsprotokoll vom 30.12.1956, Dokument 01/166 - 117/37 - 1066, Yad Vashem; Teilkopie online: http://media.offenes-archiv.de/beige_VerfolgungDeportation_04.04.11_klein.pdf; Transkript auf Geteuigen. Breendonk - Mechelen - Andere kampen - Bij derden, http://www.getuigen.be/Getuigenis/3den/Ball-Kaduri/tkst.htm
[15] Schwarberg: SS-Arzt 1997 (siehe Literatur), Seite 39 f.
[16] Curiohaus-Prozess 1969 (siehe Literatur), Band I, Seite 188. Zitate bei Schwarberg: SS-Arzt 1997 (siehe Literatur), Seite 40