Die Kinder vom Bullenhuser Damm
Mediathek Sorted
Im Vorraum der Baracke wurden als ärztliche Betreuer Prof. Florence, der Blut- und Urinproben der Kinder zu untersuchen hatte, und Dr. Quenouille untergebracht, der für die klinische Beobachtung mit der Messung der Temperaturen, dem Führen der Fieberkurven und der Anfertigung von Röntgenaufnahmen betraut wurde. Ihnen wurden zwei niederländische „Pfleger“ zugewiesen, der Buchdrucker Dirk Deutekom, geboren 1895 in Amsterdam, als Widerständler im Juli 1941 verhaftet und ein knappes Jahr später ins KZ Buchenwald deportiert, sowie der Kraftfahrer und Kellner Anton Hölzel aus Den Haag, geboren 1909 in Deventer, der im September 1941 aus demselben Grund festgenommen und im März 1942 in Buchwald inhaftiert worden war. Auch Hölzel und Deutekom wurden am 20. April 1945 zusammen mit Florence, Quenouille und den Kindern am Bullenhuser Damm erhängt.
Bei allen Kindern wurden Tuberkelkulturen in Hautritzungen eingerieben, woraufhin sie nach zwei bis drei Tagen Fieber bekamen. Bei welchen Kindern eine Tuberkuloseinfektion durch das Einführen von Serum durch eine Lungensonde hervorgerufen wurde, ist nicht bekannt. Später aufgefundene Röntgenaufnahmen, die nach dem Krieg in der Berliner Charité begutachtet wurden, zeigten bei den Kindern Jacqueline Morgenstern, Lelka Birnbaum und Sergio Di Simone infiltrative Veränderungen in den Lungenlappen, die einen solchen Eingriff vermuten ließen. Kurz vor Weihnachten 1944 waren alle Kinder schwer erkrankt. Sowohl die Professoren Florence und Quenouille als auch die Pfleger Hölzel und Deutekom entwickelten ein inniges und freundschaftliches Verhältnis zu den Kindern. Sie sorgten für gutes Essen und konnten sogar den Lagerkommandanten und den Küchenchef zu Extrarationen bewegen. Häftlinge brachten trotz strikten Verbots Weihnachtsgeschenke, die von ihnen selbst gebastelt und geschneidert worden waren. Mitte Januar gingen die Torturen weiter. Da Heißmeyer feststellen wollte, ob sich in den Lymphdrüsen Abwehrstoffe gegen die Tuberkulose gebildet hatten, ließ er die Drüsen durch den tschechischen Häftlingsarzt Dr. Bogumil Doclik operativ entfernen und später im Labor von Hohenlychen histologisch untersuchen. Zuletzt waren alle Kinder bettlägerig und apathisch geworden.[17]
Detailliert bekannt wurden die Operationen an den Kindern durch die Aussage des polnischen Sanitätsgehilfen Franciszek Czekała, der dabei assistieren musste. Czekała, geboren 1911 in Gulcz im Kreis Filehne in der Provinz Posen (heute Wieleń, Wojewodschaft Großpolen), wurde im April 1945 von Neuengamme nach Lübeck evakuiert und gelangte von dort mit einem Transport nach Neustadt in Holstein, wo überlebende Polinnen und Polen registriert wurden.[18] Czekała, zuletzt untergekommen im benachbarten Haffkrug-Sierksdorf, berichtete am 17. Dezember 1945 in Hamburg dem bekannten aus Österreich stammenden Verhöroffizier der britischen Rhein-Armee, Agenten des britischen Nachrichtendienstes SOE und Mitglied der Einheit zur Aufklärung und Verfolgung von Kriegsverbrechen (War Crimes Investigation Team), Capt. Anton Walter Freud:
„Ich wurde am 14. Juni 1940 wegen Verdachtes antideutscher Tätigkeit von der Gestapo verhaftet, kam nach Buchenwald und am 16. Dezember 1940 nach Neuengamme, wo ich bis zum 3.5.45 blieb. Bis zum 1. Januar 1942 habe ich im Kommando Kanalarbeiten an der Elbe gearbeitet. Nach dem 1.1.42 wurde ich als Sanitäter in Block 9 beschäftigt, wo Typhus-Kranke lagen. Von 1943-45 war ich Sanitäter im Revier I. – Im Jahre 1944 kamen 20 Kinder im Alter von 5-12 Jahren nach Neuengamme. Diese waren zum größten Teil polnische Juden; es gab aber auch 2 Franzosen und einige Holländer. Sie wurden im Revier IV in einem isolierten Raum untergebracht. Die Kinder durften dieses Zimmer nicht verlassen, und die Lagerinsassen durften nicht hinein. […] Die Pfleger dieser Kinder, welche auch isoliert waren, waren zwei Holländer und 2 französische Ärzte, ein Röntgenologe und ein Professor. – 6 Wochen, nachdem die Kinder gekommen waren, kam der Revierkapo Mai zu mir - ich arbeitete damals im Revier I - und sagte, ich solle für 9 Drüsenoperationen Vorbereitungen treffen; ein tschechischer Arzt, Dr. Doslik (sic!), würde die Operationen vornehmen; die Kinder vom Revier IV würden operiert. Der Verbandsraum des Reviers I wurde als Operationssaal benutzt. Ich bereitete Klemmen, Pinzetten, scharfe Haken, Skalpell und Nowokain vor. Als alles fertig war, gegen 7 Uhr abends - brachten die Pfleger die Kinder einzeln vom Revier IV ins Revier I. Ich war im Verbandszimmer des Reviers I und war während aller Operationen anwesend. Der Oberkörper der Kinder wurde entblößt, und die Kinder wurden dann auf den Operationstisch gelegt. Die Haut unter den Armen wurde ingejodet, und dann bekamen sie 10 ccm 2%iges Nowokain eingespritzt. Dr. Dozlik (sic!), der operierende Arzt, fühlte dann die Drüsen unter dem Arm, schnitt einen 5 cm großen Schnitt und nahm die Drüse heraus. Dann hat er die Wunde wieder zugenäht mit Seide. Jede Operation dauerte ca. 15 Minuten. Neun Kinder wurden an diesem Abend operiert. Die französischen Pfleger legten die Drüsen in ein Fläschchen mit Formalin-Spiritus und versahen dieses mit Namen und Nummer. Nach der Operation kamen die Kinder wieder ins Revier IV zurück. – Nach 7 Tagen wurden die Kinder wieder ins Revier I gebracht, und ich habe die Seidenfäden entfernt. – Jedem Kind wurden die Drüsen unter dem Arm in Operationen, die ca. 2 Wochen aufeinander stattfanden, entfernt. Ich konnte auch während der Operationen der Kinder beobachten, dass viele Kinder auf der Brust Schnitte in gitterartiger Façon in einem Quadrat von 3-4 cm hatten; was das bedeutete, weiß ich nicht. […] Mitte April 1945 wurden die Kinder von Neuengamme fortgebracht. Was mit ihnen geschehen ist, weiß ich nicht. Auch die Pfleger wurden mit fortgeschafft.“[19]
[17] Schwarberg: SS-Arzt 1997 (siehe Literatur), Seite 41–45
[18] Vergleiche den Bericht von Jan Karcz sowie den Eintrag zu Franciszek Czekala (sic!) auf der „Liste der geretteten Polen aus dem KZ Neuengamme vom Transport Lübeck-Neustadt“ auf: Zapisy terroru, https://www.zapisyterroru.pl/dlibra/publication/2015/edition/1997/content?&navref=MWp6OzFqaCAxMnM7MTJiIGdqO2c0IDJ3Nzsydm8gY2Y7YzMgMnc7MmsgMnY1OzJ1bSAzMTM7MzBqIGJ3O2JrIGJtO2JhIDJ5OzJtIDYyOzVx&ref=main. Vergleiche auch Sterkowicz 1977/2021 (siehe Literatur und Online)
[19] Transkribiert nach dem originalen Dokument, abgebildet in: Medizinische Experimente an Häftlingen (siehe Anmerkung 10)