Die Kinder vom Bullenhuser Damm
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Erst 1993 erfuhr die zwei Jahre nach Kriegsende geborene und dann mit ihren Eltern in die USA ausgewanderte Lola Steinbaum vom Schicksal ihres Bruders Marek aus Radom. Sie kam 1999 nach Hamburg und nahm am 20. April an der Gedenkfeier teil. 1998 besuchte die aus Sandomierz stammende und in Tel Aviv lebende Shifra Mor, die Schwester von Bluma Mekler, erstmals die Gedenkstätte und besichtigte auch die nach Bluma benannte DRK-Kindertagesstätte Bluma Mekler in Burgwedel. Ab 2012 kamen weitere Familienmitglieder aus Israel und London zu den Gedenkfeiern nach Hamburg. 2010 meldeten sich ein in Israel lebender Cousin und eine in Toronto ansässige Großcousine des ebenfalls aus Radom stammenden Marek James. Sie trafen sich 2011 mit Mareks nach dem Krieg in Regensburg geborenem Bruder Mark bei der Feier am 20. April in Hamburg. Die in Israel geborene Amalia Klygerman erfuhr durch eine andere Opferfamilie vom Schicksal ihrer Schwester Lea, behielt diese Nachricht aber für sich um ihre noch lebende Mutter zu schützen. Erst 2015 erfuhr die in Tel Aviv lebende Greta Hamburg, geborene Jungleib, vom Schicksal ihres Bruders Walter, von dem sie annahm, dass er bei einem Todesmarsch vom Konzentrationslager Auschwitz ums Leben gekommen wäre. Die Familie Reichenbaum hatte den Namen Jungleib auf einer Transportliste zum Außenlager Lippstadt entdeckt, die Verbindung zu Walter gezogen und den Kontakt zur Familie über die Gedenkstätte Yad Vashem hergestellt. 2016 nahm Greta Hamburg zum ersten Mal an der Gedenkfeier in Hamburg teil.[47]
Die Gedenkstätte Bullenhuser Damm befindet sich zusammen mit den Taträumen des Mordgeschehens im Untergeschoss der ehemaligen Janusz-Korczak-Schule in Hamburg-Rothenburgsort am Bullenhuser Damm 92 (Abb. 37–39 . ). Nach den flächendeckenden Bombardierungen im Zweiten Weltkrieg liegt die Schule heute vereinzelt in einem von Transportfirmen bestimmten Hafenrandgebiet, das nach Kriegsende sich selbst überlassen wurde. Im Zentrum des ersten Ausstellungsraums stehen symbolische Koffer, die die Biografien und Fotos der Kinder und ihrer Familien enthalten. Entsprechende Koffer berichten auch über die zusammen mit den Kindern ermordeten Ärzte und Pfleger (Abb. 40–47 . ). Schautafeln informieren über die Themen Verfolgung und Deportation, die medizinischen Experimente, das KZ-Außenlager Bullenhuser Damm, über die Morde, die Täter und die sowjetischen Häftlinge. Der Ausstellungsraum 2 enthält Schränke, in denen Aktenordner und Schnellhefter mit vertiefenden Materialien und Kopien von Dokumenten und Fotografien zur allgemeinen Benutzung bereitstehen (Abb. 48 . ). Durch einen dritten Raum mit Zitaten aus den Vernehmungsprotokollen der Täter gelangt man in den weitgehend leeren historischen Tatraum (Abb. 49 . ). Ein weiterer der im Zweiten Weltkrieg als Luftschutzkeller genutzten Räume dient seit Einrichtung der Gedenkstätte der stillen Erinnerung (Abb. 50 . ).
2019 veröffentlichte die aus Poznań stammende und dort tätige Kulturwissenschaftlerin Natalia Budzyńska unter dem Titel „Dzieci nie płakały“ (dt. Die Kinder weinten nicht) die knapp 400 Seiten starke Geschichte ihres „Onkels Alfred Trzebinski, eines SS-Arztes“ (Historia mojego wuja Alfreda Trzebinskiego, lekarza SS), nachdem sie auf das jahrzehntelang gehütete Familiengeheimnis gestoßen war. Selbst eine geborene Trzebińska, hatte sie herausgefunden, dass Alfred ein Sohn ihres Urgroßonkels, also in Wirklichkeit ihr Cousin 3. Grades gewesen war. Die Familie entstammte einer verarmten großpolnischen Adelsfamilie. Alfreds Vater, der in Jutroschin/Jutrosin tätige Gymnasiallehrer Stefan Trzebiński, hatte die Deutsche Maria Lepke geheiratet und seine Kinder deutsch erzogen. Alfred Trzebinski, der die Schreibweise seines Namens eindeutsche, studierte Medizin in Breslau und Greifswald, wo er 1928 promovierte, und heiratete eine deutsche Kommilitonin. 1932 wurde er Mitglied der SS, im Jahr darauf der NSDAP, und stieg im Juni 1943 zum SS-Hauptsturmführer auf. In polnischen und deutschen Archiven sowie durch das erhaltene Tagebuch ihres Verwandten gelang es Budzyńska dessen Lebensgeschichte und Verbrechen zu rekonstruieren.[48]
Axel Feuß, Juni 2022
Der Autor dankt Frau Dr. Iris Groschek, Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte zur Erinnerung an die Opfer der NS-Verbrechen, für kritische Durchsicht und weiterführende Hinweise.
[47] Kristina Festring-Hashem Zadeh: Von SS ermordetes Kind hat jetzt ein Gesicht, auf ndr.de (22.9.2015), https://www.ndr.de/geschichte/Von-SS-ermordetes-Kind-hat-jetzt-ein-Gesicht,bullenhuserdamm138.html
[48] Vergleiche ausführlich die Rezension des Soziologen Lech M. Nijakowski (siehe Online), Professor für Soziologie an der Universität Warschau. Das Buch von Natalia Budzyńska bietet die Grundlage für den Eintrag über Alfred Trzebinski auf der polnischen Wikipedia