Die Kinder vom Bullenhuser Damm
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Die Ermordung der Kinder, ihrer Betreuer und der sowjetischen Gefangenen am Bullenhuser Damm
Am 19. Februar 1945 traf Himmler, der einen separaten Waffenstillstand mit den Westalliierten anstrebte, in Hohenlychen den Vizepräsidenten des Schwedischen Roten Kreuzes, Graf Folke Bernadotte, um die Rückführung der skandinavischen Häftlinge aus den deutschen Konzentrationslagern zu besprechen. In der Folge sollten die Skandinavier, vorwiegend Dänen und Norweger, in Neuengamme konzentriert und anschließend mit den später bekannt gewordenen Weißen Bussen nach Norden gebracht werden. Am 23. März überquerte die 2. britische Armee den Rhein und rückte auf die Norddeutsche Tiefebene vor. Einen Tag später wurde mit der Räumung der Neuengammer Außenlager im Emsland begonnen, denen bis zum Monatsende die Außenlager in Hildesheim, Lengerich, Barkhausen, Lerberg und Hausberge folgten.[20] Am 31. März besuchte Graf Bernadotte das KZ Neuengamme und wurde vom Lagerkommandanten Pauly empfangen.[21] Anschließend begann die Überführung der Skandinavier mit den Weißen Bussen aus den Konzentrationslagern Buchenwald, Sachsenhausen, Dachau, Ravensbrück, Neubrandenburg, Zwickau und Theresienstadt nach Neuengamme. Am 4. April 1945 erreichten die britischen Einheiten die Weser.
Zwischen dem 14. und 17. April wurden die in Hamburg gelegenen Außenlager des KZs Neuengamme, Dessauer Ufer, Blohm & Voss, Spaldingstraße und Bullenhuser Damm, geräumt. Das Außenlager Bullenhuser Damm in einer ehemaligen Volksschule mit ursprünglich 30 Klassen (siehe Titelbild) war von der SS im Herbst 1944 zum KZ-Außenlager umgebaut worden, nachdem der Stadtteil Rothenburgsort bei einem Bombenangriff am 27./28. Juli 1943 weitgehend zerstört und das ehemalige Schulgebäude beschädigt worden war. Die aus Polen, Dänemark, Frankreich und der Sowjetunion stammenden Häftlinge, die im Dezember 1944 dort eintrafen, wurden bei Aufräumarbeiten und der Herstellung neuer Steine aus Trümmerschutt eingesetzt. Ende März 1945 befanden sich dort nach dem Bericht von Trzebinski 592 Häftlinge. Ab dem 14. April räumte die SS das Außenlager Bullenhuser Damm, in dem nur die SS-Männer Ewald Jauch und Johann Frahm zurückblieben, und brachte die Häftlinge in das als Auffanglager genutzte ehemalige Kriegsgefangenenlager Sandbostel bei Bremervörde.
Am 19. April 1945 erreichten die britischen Truppen die Elbe. Am selben Tag befahl Kommandant Pauly die Räumung des Hauptlagers Neuengamme. Sämtliche Skandinavier wurden mit Bussen des Roten Kreuzes nach Dänemark gebracht. Zwischen dem 20. und 26. April wurden die letzten verbliebenen 900 Gefangenen von Neuengamme nach Lübeck transportiert um sie von dort auf dem früheren Luxusdampfer „Cap Arcona“ und den Frachtschiffen „Thielbeck“ und „Athen“ bei zu vermutenden Torpedo- oder Luftangriffen der Alliierten in den sicheren Tod zu schicken. Rund 7.000 von ihnen kamen bei der Bombardierung der Schiffe durch die britische Luftwaffe in der Lübecker Bucht ums Leben. Im Lager Neuengamme musste ein 600 bis 700 Mann starkes Restkommando das Lager säubern, die Akten verbrennen sowie den Prügelbock und den Galgen beseitigen. Kurz bevor britische Truppen das Lager am 2. Mai 1945 erreichten, verließen die letzten Häftlinge und die SS das Lager.[22] In den sieben Jahren seines Bestehens waren dort und in den Außenlagern mindestens 42.900 Menschen ums Leben gekommen.[23]
Am Vormittag des 20. April kam der Schutzhaftlagerführer und SS-Obersturmführer Anton Thumann, der zuvor in den Konzentrationslagern Dachau, Groß-Rosen und Majdanek eingesetzt gewesen war, auf Trzebinski zu und sagte: „…ich soll dir etwas nicht gerade Schönes sagen. Pauly lässt dir sagen, es liegt ein Exekutionsbefehl aus Berlin vor, für die Pfleger und die Kinder und du sollst die Kinder durch Gas oder Gift umbringen.“[24] Heißmeyer war zu diesem Zeitpunkt seit sechs Wochen nicht mehr in Neuengamme gewesen.[25] Trzebinski, der sich – glaubt man seiner späteren Aussage – zunächst geweigert hatte, wurde am Nachmittag zu Pauly zitiert, der bestätigte, dass ein solcher Befehl aus Berlin gekommen sei und Trzebinski sich daran zu halten habe. Im Curiohaus-Prozess sagte Pauly am 2. April 1946 aus, dass es sich um ein an den Standortarzt gerichtetes Fernschreiben oder einen Funkspruch gehandelt habe. Auf eine Vorhaltung des Staatsanwalts, dass so ein Befehl nicht an einen Arzt gerichtet gewesen sein könne, erwiderte Pauly: „Das ist nach meiner Meinung nicht unmöglich, da ja die ganze Sache eine ärztliche Angelegenheit war. Trzebinski ist doch immer mit Professor Heißmeyer zusammengewesen.“[26]
[20] Karten der Außenlager, der Räumungstransporte und des Frontverlaufs ab März 1945, http://media.offenes-archiv.de/zeitspuren_karteraeumung.pdf
[21] Vergleiche Odd Nansen: Von Tag zu Tag. Ein Tagebuch, aus dem Norwegischen übertragen … (Fra dag til dag, Oslo 1947), Hamburg 1949; Online-Ressource auf: Frühe Holocaustliteratur. Digitale Giessener Sammlungen, https://digisam.ub.uni-giessen.de/ubg-ihd-fhl/content/pageview/2781798
[22] Vergleiche Detlef Garbe: Die Räumung der Konzentrationslager in Norddeutschland und die deutsche Gesellschaft bei Kriegsende, in: Das KZ Neuengamme und seine Außenlager. Geschichte, Nachgeschichte, Erinnerung, Bildung, herausgegeben im Auftrag der KZ-Gedenkstätte Neuengamme von Oliver von Wrochem, Hamburg 2010, Seite 111–135
[23] Die Gedenkstätte Bullenhuser Damm 2011 (siehe Literatur), Seite 8
[24] Curiohaus-Prozess 1969 (siehe Literatur), Band III, Seite 346, zitiert nach Schwarberg: SS-Arzt 1997 (siehe Literatur), Seite 45; ebenso in: Dossier Täter vor Gericht (siehe Anmerkung 1)
[25] Schwarberg: SS-Arzt 1997 (siehe Literatur), Seite 45
[26] Aussage Max Pauly am 2.4.1946, Curiohaus-Prozess 1969 (siehe Literatur), Band I, Seite 335 f., zitiert nach: Dossier Täter vor Gericht (siehe Anmerkung 1)