Die Kinder vom Bullenhuser Damm
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Spurensuche, Dokumentation, Erinnerung. Die Errichtung einer Gedenkstätte
In den Jahren nach den Curiohaus-Prozessen verblasste in der breiteren Öffentlichkeit die Erinnerung an die Morde am Bullenhuser Damm. Im August 1948 wurde der Schulbetrieb dort wieder aufgenommen. Seit den späten Fünfzigerjahren gedachten ehemalige Häftlinge des KZs Neuengamme regelmäßig am Schulgebäude der Geschehnisse. Nach jahrelangen Forderungen ließ der Hamburger Senat 1963 dort eine Gedenktafel für die ermordeten Kinder und ihre vier Betreuer anbringen, jedoch ohne die ebenfalls hingerichteten sowjetischen Gefangenen zu erwähnen. 1977 wurde der Journalist Günther Schwarberg (1926-2008), der nach Zeiten beim Bremer Weserkurier, bei Radio Bremen und bei einer Düsseldorfer Agentur beim Hamburger Wochenmagazin Stern arbeitete und sich in seinen Beiträgen auf die Opfer des Nationalsozialismus und den Widerstand konzentrierte, auf das Geschehen am Bullenhuser Damm aufmerksam.[40] Nach der Teilnahme an einer Gedenkveranstaltung im Keller der Schule begann er seine Suche nach Spuren der ermordeten Kinder. Er fand in Frankfurt am Main im Archiv der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes Fotos aller 20 Kinder, die ein SS-Fotograf für Heißmeyer angefertigt hatte. Mit diesen Bildern ließ er Suchplakate in polnischer, italienischer, serbokroatischer und deutscher sowie in französischer, holländischer und englischer Sprache drucken und verschickte sie in verschiedene Länder um Angehörige zu finden.[41]
Als erste meldete sich eine Beamtin der Staatsanwaltschaft in Tel Aviv, die auf einem der Fotos ihre Cousine Riwka Herszberg aus dem polnischen Zduńska Wola erkannt hatte. Ein Rechercheur, so Schwarberg,[42] fand in Paris die Familien Kohn und Morgenstern. Bei einem Treffen im Pariser Büro des Rechtsanwalts Serge Klarsfeld erkannte der Geschäftsmann Philippe Kohn auf einem Bild seinen Bruder Georges. Dorothéa Morgenstern fand auf den Fotos ihre Nichte Jacqueline wieder.[43] In den Niederlanden wurden Angehörige der ermordeten Krankenpfleger Hölzel und Deutekom gefunden. Vom März 1979 an veröffentlichte Schwarberg in der Zeitschrift Stern unter dem Obertitel „Der SS-Arzt und die Kinder“ in einer sechsteiligen Serie die gesamten Geschehnisse von der Deportation der Familie Kohn aus Paris im August 1944 bis zum Prozess gegen Heißmeyer und zu den vergeblichen Anklagen gegen Strippel. Neben seinen eigenen Nachforschungen konnte Schwarberg auf die von Dr. Henry Meyer in Dänemark veröffentlichte Liste, auf eine 1978 von dem ehemaligen Häftling des KZs Neuengamme, Fritz Bringmann, verfasste Broschüre mit dem Titel „Kindermord am Bullenhuser Damm“ und auf die Dokumente und Ergebnisse des Prozesses gegen Heißmeyer in der DDR zurückgreifen. Die Serie endete mit einem Bericht über seinen jüngsten Kontakt mit dem 16jährigen in Hamburg wohnenden Michael Zylberberg, dessen Eltern auf den im Stern veröffentlichten Fotos der Kinder ihre aus Zawichost in Polen stammende Nichte Ruchla erkannt hatten.[44]
Am 20. April 1979 kamen über 2.000 Menschen zu einer Gedenkveranstaltung anlässlich des 34. Todestags der Opfer vom Bullenhuser Damm zusammen. Aus Paris trafen Philippe Kohn und der Sohn von Dorothéa, Henri Morgenstern, aus Hamburg die Familie Zylberberg, aus den Niederlanden die Witwe von Anton Hölzel ein. Sie gründeten zusammen mit ehemaligen Häftlingen des KZs Neuengamme sowie Hamburgerinnen und Hamburgern die bis heute bestehende Vereinigung Kinder vom Bullenhuser Damm e.V. und beantragten das erneute Ermittlungsverfahren gegen Strippel. 1980 eröffnete der Verein in den Kellerräumen der Schule mit einer ersten kleinen Ausstellung eine Gedenkstätte. Im April desselben Jahres wurde die Schule vom Hamburgischen Senat in einer Feierstunde nach dem polnischen Arzt und Pädagogen Janusz Korczak, der 1942 die von ihm betreuten jüdischen Kinder eines Waisenhauses freiwillig in das Konzentrationslager Treblinka begleitet hatte und mit ihnen in den Tod gegangen war, in Janusz-Korczak-Schule umbenannt (Abb. 37–39 . ).[45]
[40] Schwarberg: Kinder 1996 (siehe Literatur), Seite 135 f., nennt als seine ersten Quellen das Buch von Edward Lord Russell of Liverpool, eines nach 1945 für die Militärgerichte der britischen Armee verantwortlichen Brigadiers: Geißel der Menschheit. Kurze Geschichte der Nazikriegsverbrechen, Berlin 1960, sowie das im selben Jahr erschienene Buch des DDR-Schriftstellers Willi Bredel: Unter Türmen und Masten. Geschichte einer Stadt in Geschichte, Schwerin 1960
[41] Reproduktion des Plakats im Dossier „Günther Schwarbergs Spurensuche“, http://media.offenes-archiv.de/10mal_gruen_Plakat_28.03.11_klein.pdf
[42] Schwarberg: Kinder 1996 (siehe Literatur), Seite 137
[43] Zu den Familien der ermordeten Kinder vergleiche: http://www.kinder-vom-bullenhuser-damm.de/die_angehoerigen.php
[44] Reproduktionen der Stern-Artikel vom Günther Schwarberg im Dossier „Stern“-Serie: „Der SS-Arzt und die Kinder“, auf: http://media.offenes-archiv.de/04_gruen_SternSerie_31.03.11_klein.pdf
[45] Am Gedenktag: „Der muss viel durchlitten haben“. Janusz Korczak gab der Schule seinen Namen, in: Hamburger Abendblatt vom 21. April 1980, Kopie im Dossier Dokumente und Fotos, auf: http://media.offenes-archiv.de/05_gruen_DokumenteFotos_30.06.11_nachkorrektur.pdf