Die Kinder vom Bullenhuser Damm
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Thumann, der 1943/44 im KZ Majdanek eingesetzt gewesen und von Häftlingen wegen seiner Teilnahme an Selektionen, Vergasungen und Erschießungen „Henker von Majdanek“ genannt worden war, hatte im KZ Neuengamme nur im Vorwege von der geplanten Ermordung der Kinder gewusst. Nach Kriegsende erkannten ihn ehemalige Häftlinge in Rendsburg und sorgten für seine Verhaftung. Im ersten Curiohaus-Prozess wurde er wegen der Ermordung von 13 Frauen und 58 Männern angeklagt, die während der Räumung des KZs Neuengamme aus dem Polizeigefängnis Hamburg-Fuhlsbüttel dorthin gebracht worden waren.[36] Gegen Dr. Kurt Heißmeyer wurde wegen der von ihm angeordneten Menschenversuche kein Haftbefehl erlassen. Er kehrte nach dem Krieg in sein Elternhaus in Sandersleben nordöstlich von Halle (Saale) zurück, arbeitete zunächst in der Praxis seines Vaters und praktizierte dann bis zu seiner Verhaftung im Dezember 1963 in Magdeburg.
Als erster sagte Speck am 9. März 1946 vor dem britischen Captain H.P. Kinsleigh im Lager Neumünster unter Eid aus, vom Transport der Kinder aus Neuengamme zum Bullenhuser Damm gewusst zu haben. Am selben Tag gab Frahm gegenüber Kinsleigh den Mord an den Kindern zu, schob die Verantwortung aber auf Trzebinski, der die Kinder durch „Injektion ins Herz“ getötet haben sollte.[37] Am 18. März wurde im Curiohaus an der Hamburger Rothenbaumchaussee, einem ehemaligen Gesellschafts- und Lehrervereinsgebäude mit entsprechend großem Saal, der Neuengamme-Hauptprozess (Neuengamme Camp Case No. 1) nicht nur gegen die Verantwortlichen der Morde vom Bullenhuser Damm, sondern allgemein gegen 14 Angehörige des SS-Lagerpersonals des Konzentrationslagers Neuengamme wegen Tötung und Misshandlung Angehöriger alliierter Staaten eröffnet. Gleichzeitig liefen die Verhöre durch Freud weiter. Im Prozess saßen die Angeklagten mit Nummern gekennzeichnet in einer Reihe, darunter Pauly (1), Thumann (3), Dreimann (5), Speck (9) und Trzebinski (14), vor ihnen ihre deutschen Anwälte, dahinter das britische Wachpersonal (Abb. 8 . ).
Durch die Vernehmungsprotokolle, die Aussagen und Geständnisse der Beschuldigten vor Gericht, nach denen sich falsche wechselseitige Beschuldigungen nicht mehr aufrechterhalten ließen, sowie durch Zeugenaussagen vervollständigte sich das Tatgeschehen. Die Hamburger Öffentlichkeit erfuhr zeitnah aus der Tagespresse von den pseudo-medizinischen Experimenten in Neuengamme und den Morden am Bullenhuser Damm, unter anderem aus dem Hamburger Nachrichten-Blatt der britischen Militärbehörde, der von den Briten lizensierten liberalen Hamburger Freien Presse, dem sozialdemokratischen Hamburger Echo oder der kommunistischen Hamburger Volkszeitung.[38] Am 3. Mai 1946 wurde alle vier Angeklagten, Pauly, Dreimann, Speck und Trzebinski, wegen der Morde am Bullenhuser Damm zum Tod durch Erhängen verurteilt. Außerdem erhielten sieben weitere KZ-Mörder das Todesurteil, darunter auch Thumann. Frahm und Jauch wurden am 31. Mai in einem Nebenprozess angeklagt, in dem auch die bereits Verurteilten aussagen mussten, und erhielten ebenfalls die Todesstrafe. Alle Todesurteile wurden zwischen dem 8. und 11. Oktober 1946 vollstreckt.
Heißmeyer eröffnete in der Folgezeit eine Praxis in Magdeburg, die einzige private Praxis zur Behandlung von Tuberkulose in der DDR, und wurde Direktor der kleinen und ebenfalls privaten Klinik des Westens. Als 1959 in der westdeutschen Illustrierten Stern ein Leitartikler bedauerte, dass bundesdeutschen Schülerinnen und Schülern die Naziverbrechen verschwiegen würden, und den Namen Dr. Kurt Heißmeyer als SS-Arzt im Zusammenhang mit Tuberkulose-Experimenten erwähnte, begannen Nachforschungen eines Dachverbands ehemaliger Häftlinge des KZs Neuengamme und des Komitees der antifaschistischen Widerstandskämpfer der DDR. Im Dezember 1963 ließ der Generalstaatsanwalt der DDR Heißmeyer verhaften. Um sich selbst zu entlasten führte dieser die Ermittler zu einer in Hohenlychen vergrabenen Kiste, deren Inhalt, unter anderem Röntgenaufnahmen, Fieberkurven und Fotografien der operierten Kinder, die strenge ethische und wissenschaftliche Qualität seiner Versuche belegen sollte. Ein Gutachten der Berliner Charité legte jedoch nahe, dass Heißmeyer bei mindestens drei Kindern eine Einführung von Tuberkulose-Bakterien direkt in die Lungen vorgenommen hatte. In einer Vernehmung vom 6. April 1964 gestand Heißmeyer schließlich ein, „mit diesen Experimenten an den Kindern […] ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen zu haben“. Am 21. Juni wurde vor dem Bezirksgericht Magdeburg der Prozess gegen ihn wegen „Verbrechens gegen die Menschlichkeit“ eröffnet. Dieser endete am 30. Juni 1966 mit einer lebenslangen Zuchthausstrafe. 14 Monate später, am 29. August 1967 starb Heißmeyer in der Haft an einem Herzinfarkt.[39]
[36] Vergleiche das Dossier Anton Thumann der KZ-Gedenkstätte Neuengamme auf: http://media.offenes-archiv.de/ss2_1_4_bio_1969.pdf
[37] Zitate aus den Vernehmungsprotokollen bei Schwarberg: SS-Arzt 1997 (siehe Literatur), Seite 79–81
[38] Reproduzierte Zeitungsausschnitte in: Dossier Täter vor Gericht: Die Curio-Haus-Prozesse. Presseberichte, auf: http://media.offenes-archiv.de/01_gruen_presseberichte_01.04.11_klein.pdf
[39] Ausführlich zu Heißmeyer bei Schwarberg: SS-Arzt 1997 (siehe Literatur), Seite 92–110; das Zitat Seite 98 aus den Gerichtsakten beim Generalstaatsanwalt der DDR