Die Kinder vom Bullenhuser Damm
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Obwohl Pauly befohlen hatte, die Leichen am Bullenhuser Damm zurückzulassen, forderte Jauch später einen Wagen aus Neuengamme an, den Strippel dann mit den leblosen Körpern nach Neuengamme zurückbrachte. Der Leiter des Krematoriums in Neuengamme, SS-Unterscharführer Wilhelm Brake, gab am 14. Mai 1946 in Recklinghausen einem Sergeanten der Britischen Rheinarmee zu Protokoll: „Ich entsinne mich, dass etwa 14 Tage vor dem Zusammenbruch [des Deutschen Reiches] ein Leichentransport von Hamburg, wahrscheinlich vom Bullenhuserdamm, ankam. Es waren ungefähr 40-50 Leichen, und mir wurde von Obersturmführer Thumann gesagt, dass die Leichen vorläufig nicht verbrannt werden sollten. Ich fuhr mit dem Fahrrad zum Krematorium und fand, dass man inzwischen schon mit der Verbrennung angefangen hatte. Ich fuhr zurück und meldete Thumann das. Thumann sprach dann mit Dr. Trzebinski und es wurde entschieden, dass die Leichen doch verbrannt werden sollten. Ich fuhr dann wieder zum Krematorium und sagte den Häftlingen, dass sie weitermachen könnten. Dann erzählten mir die Häftlinge, dass unter diesen Leichen etwa 20 Kinder waren.“[29]
Das Kriegsende und die Strafverfolgung der Täter
Als die ersten britischen Soldaten das ehemalige Konzentrationslager Neuengamme am Abend des 2. Mai 1945 betraten, deutete nichts mehr auf die dort begangenen Verbrechen hin. Lagerkommandant Pauly hatte nach der Räumung des Lagers bis zum 2. Mai rund 400 Kilo Akten verbrennen lassen. Die Baracken waren gereinigt und gekalkt, der Galgen zersägt und verfeuert und vor das Krematorium ein Schild mit der Aufschrift „Desinfektionsraum“ gehängt worden. „Niemand war da“, vermerkte später die Lagergemeinschaft Neuengamme.[30] Unmittelbar nach ihrer Ankunft nutzten die Briten das Lager zur Unterbringung von Displaced Persons und Kriegsgefangenen. Hamburg stand jetzt unter britischer Verwaltung. Am 1. Mai hatte Großadmiral Karl Dönitz, das deutsche Staatsoberhaupt nach dem Selbstmord Adolf Hitlers, dem Kommandanten von Hamburg, Generalmajor Alwin Wolz, die kampflose Räumung der Stadt befohlen. Am 3. Mai übergab Wolz die Stadt an den britischen Brigadegeneral Douglas Spurling.
Zur selben Zeit gründete das Hauptquartier der britischen Rheinarmee eine erste Gruppe zur Untersuchung von Kriegsverbrechen, das War Crimes Investigation Team (WCIT) No. 1, das die Verbrechen in dem am 15. April befreiten Konzentrationslager Bergen-Belsen untersuchen sollte. Das WCIT No. 2 begann wenig später die Untersuchungen zum KZ Neuengamme. Ihm gehörten vier Offiziere an, darunter der 1938 nach Großbritannien emigrierte Capt. Anton Walter Freud, Enkel des Psychoanalytikers Sigmund Freud. Noch im Mai nahm ein Komitee ehemaliger politischer Gefangener des Lagers Neuengamme Kontakt zum britischen Secret Service auf. Die Berichte des Komitees über die im Lager verübten Verbrechen lösten beim WCIT zunächst Unglauben aus. Erst nach einem gemeinsamen Besuch des Lagergeländes und dem Auffinden von Unterlagen, und zwar des letzten Quartalsberichts des Standortarztes sowie der Totenbücher, die der Häftling Emil Zuleger versteckt hatte, entwickelte sich ein Vertrauensverhältnis zwischen dem Komitee und dem WCIT, das in einer gemeinsamen Prozessvorbereitung mündete.[31]
Der dänische Arzt Dr. Henry Meyer, der selbst eineinhalb Jahre Häftling in Neuengamme gewesen und durch die Rettungsaktion des schwedischen Roten Kreuzes befreit worden war, schilderte am 6. Mai 1945 in einem „Bericht für das dänische Rote Kreuz“ die medizinischen Experimente an Häftlingen und die Tuberkulose-Versuche an den Kindern und listete deren Namen auf.[32] Der schwedische Arzt Gerhard Rundberg, der die Liste gemeinsam mit Meyer im Buch „Rapport fra Neuengamme“ veröffentlichte, hatte die Rettungsaktion von Graf Folke Bernadotte geleitet. Auch andere Überlebende berichteten von den Kindern, die am 20. April plötzlich verschwunden waren. Gezielt wurde nun nach allen Verantwortlichen für die im KZ Neuengamme verübten Verbrechen gesucht. Unter ihnen waren auch jene, die die Morde an den Kindern angeordnet, sie verübt, von ihnen gewusst hatten oder an ihnen beteiligt waren: Lagerkommandant Max Pauly, Schutzhaftlagerführer Anton Thumann, der Arzt Dr. Kurt Heißmeyer, Standortarzt Dr. Alfred Trzebinski, Rapportführer Wilhelm Dreimann, SS-Unterscharführer Johann Frahm, der SS-Oberscharführer und Lagerführer Ewald Jauch, der Unterscharführer Hans Friedrich Petersen, der Block- und Kommandoführer Adolf Speck, der SS-Obersturmführer Arnold Strippel und der Unterscharführer Heinrich Wiehagen.
[29] Deposition of Wilhelm Gustav Brake, Recklinghausen, 14.5.1946, Transkript nach dem Foto des Originaldokuments auf http://media.offenes-archiv.de/ss2_1_3_bio_2089.pdf
[30] So ging es zu Ende … Neuengamme. Dokumente und Berichte, herausgegeben von der Lagergemeinschaft Neuengamme, Hamburg 1960, Seite 68
[31] Alyn Bessmann / Marc Buggeln: Befehlsgeber und Direkttäter vor dem Militärgericht. Die britische Strafverfolgung der Verbrechen im KZ Neuengamme und seinen Außenlagern, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 53. Jahrgang, Heft 6, 2005, Seite 526, Online-Ressource: https://www.geschichte.hu-berlin.de/de/bereiche-und-lehrstuehle/dtge-20jhd/dokumente/publikationen/publikationen-buggeln/Befehlsgeber%20und%20Direkttaeter%20vor%20Militaergericht-%20Zfg%202005.pdf
[32] Schwarberg: SS-Arzt 1997 (siehe Literatur), Seite 139