Die Kinder vom Bullenhuser Damm
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R. Zeller, ein Junge aus Polen, zwölf Jahre alt, wurde vermutlich 1933 geboren. Nachname, Alter, Geschlecht und Herkunft stehen auf der Liste, die Henry Meyer 1945 in seinem Buch „Rapport fra Neuengamme“ in Kopenhagen veröffentlichte. Außerdem notierte der Lagerarzt Kurt Heißmeyer die Anfangsbuchstaben R.Z. auf einem seiner Notizbögen und beschriftete damit eines der Fotos, die seine Experimente an den Kindern dokumentieren sollten.
Ruchla Zylberberg wurde am 6. Mai 1936 als Tochter von Fajga, geborene Rosenblum, und Nison Zylberberg, einem Schuhmacher, in der polnischen Kleinstadt Zawichost nördlich von Sandomierz geboren. Zwei Jahre später kam ihre Schwester Ester zur Welt. Als die deutsche Wehrmacht 1939 Polen besetzte, floh der Vater mit Bruder und Schwägerin nach Russland. Er wollte seine Familie später nachholen, was durch den deutschen Überfall auf die Sowjetunion jedoch unmöglich wurde. 1942 wurde die Mutter mit ihren Töchtern ins Konzentrationslager Auschwitz deportiert, wo Fajga und Ester ermordet wurden. Als Ruchla am 28. November 1944 in das KZ Neuengamme gebracht wurde, war sie acht Jahre alt. Der Vater kehrte 1946 nach Polen zurück und wanderte 1951 in die USA aus. Sein Bruder Henryk, der in Hamburg lebte, erkannte 1979 als erster Ruchlas Bild in einem Pressebericht über die Kinder vom Bullenhuser Damm. Nison Zylberberg bestätigte die Identität seiner Tochter. Er starb 2002.
Menschenversuche an Häftlingen und Kindern im KZ Neuengamme
Im Frühjahr 1944 trafen sich führende Mediziner der deutschen Reichsregierung und der SS zu einem informellen Treffen im Casino der Heilanstalten Hohenlychen, die von 1902 bis 1945 in der Stadt Lychen im Landkreis Uckermark im Norden von Brandenburg angesiedelt waren. Neben dem Klinikbetrieb, der traditionell der Heilung von Lungenkrankheiten und zuletzt der Behandlung von Sportverletzungen und Arbeitsschäden diente, galt Hohenlychen als in Mode gekommener Erholungsort für Nazigrößen wie Hitler und dessen Minister, für SS-Führer, Generäle und Offiziere der Waffen-SS, Reichsleiter, Reichssportführer, Staatssekretäre und Heeresoffiziere. Aber auch internationale Delegationen verkehrten dort. Bei dem fraglichen Treffen kamen unter anderem der Reichsärzteführer Dr. Leonardo Conti, der Reichsarzt SS und Polizei Dr. Ernst-Robert Grawitz und der Chefarzt von Hohenlychen, Prof. Dr. Karl Gebhardt, zusammen, welcher seinem Oberarzt, Dr. Kurt Heißmeyer, Gelegenheit zu einem kurzen Vortrag gab.
Heißmeyer, geboren 1905 in Lamspringe, hatte in Freiburg promoviert und arbeitete seit 1938 in Hohenlychen. Sein Onkel August Heißmeyer war General der Waffen-SS. Mit dem General der Waffen-SS Oswald Pohl, im SS-Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt für die Konzentrationslager zuständig, war er befreundet. Um Professor zu werden, musste er eine Habilitationsschrift erarbeiten, in der er sich mit der Bekämpfung der Tuberkulose beschäftigen wollte. In seinem Vortrag schlug er eine Versuchsreihe an Menschen vor, bei der an Tuberkulose erkrankte Personen künstlich mit einem weiteren Tuberkuloseherd infiziert werden sollten, indem man ihnen im Sinne einer Impfung abgetötete Tuberkelbazillen in die angeritzte Haut einreiben würde. Dieser längst widerlegte Forschungsansatz des österreichischen Mediziners Hans Kutschera-Aichbergen sollte die Immunität und den Heilungsprozess in der Lunge verbessern. Conti, Grawitz und Gebhardt kamen überein, dass Heißmeyer die geplanten Versuche an Inhaftierten des Konzentrationslagers Ravensbrück durchführen sollte, wo Gebhardt bereits seit dem Juli 1942 verschiedene Experimente vornehmlich an weiblichen Gefangenen erprobte. Voraussetzung war, dass Reichinnenminister Heinrich Himmler, der sich alle Genehmigungen für Menschenversuche vorbehalten hatte, damit einverstanden wäre. Pohl überbrachte schließlich Himmlers Erlaubnis, verlangte jedoch, dass die Experimente nicht in Ravensbrück stattfinden sollten, da das Ausland bereits von Gebhardts dortigen Versuchen erfahren hatte. Er einigte sich schließlich mit Heißmeyer auf das Konzentrationslager Neuengamme in Hamburg als einem etwas „diskreteren“ Ort für die Experimente.[7]
[7] Schwarberg: SS-Arzt 1997 (siehe Literatur), Seite 9–14. Vergleiche auch Sterkowicz 1977/2021, siehe Literatur und Online)