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„Der Sturm“ und seine polnischen Künstler 1910–1930

Titelseite von „Der Sturm“, 13. Jahrgang, 2. Heft, Berlin 1922, mit einer Zeichnung von Louis Marcoussis (Ludwik Kazimierz Władysław Markus, 1878-1941)

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Titelseite von „Der Sturm“, 13. Jahrgang, 2. Heft, Berlin 1922, mit einer Zeichnung von Louis Marcoussis (Ludwik Kazimierz Władysław Markus, 1878-1941)
Titelseite von „Der Sturm“, 13. Jahrgang, 2. Heft, Berlin 1922, mit einer Zeichnung von Louis Marcoussis (Ludwik Kazimierz Władysław Markus, 1878-1941)

Seine künstlerischen Grundlagen fand Stanislaus Stückgold bei Rousseau und Matisse.[50] Er schuf Landschaften, auch mit Nahaufnahmen von Pflanzen und Tieren, teils in gewagter Perspektive, sowie Blumen- und Früchtestillleben in flächiger, noch dem Jugendstil verpflichteter Komposition mit ornamentalen Umrissen und leuchtend heller, von Matisse beeinflusster Farbigkeit. „Die Dinge, die Stückgold malt“, schrieb Kuno Mittenzwey 1917 in der Deutschen Kunst und Dekoration (PDF 14), „führen von vornherein ihren Raum mit sich, jene dem Zufälligen entrückte Ebene des Seins, in der sich wesenhafte Ereignisse abspielen. Wo Tiefe gebraucht wird, wird sie mit einem Minimum primitiver Perspektive hergestellt. Dem Illusionären, Scheinhaften wird niemals nachgegangen, für Halbtöne, Übergänge, alles Transitorische ist kein Platz. Damit das Sein einfach werde, wird der farbige Aufbau mit naiven, elementaren Farben unter starker Steigerung durch den Kontrast hergestellt.“ Auch seine zahlreichen Porträts (Abb. 1), denen er gelegentlich Attribute wie Blumen, Früchte, Bücher oder Kerzen beigab, zeigen eine fast naive, flächige Einfachheit mit grober Binnenzeichnung. Bildnisse schuf er unter anderem von Martin Buber, Albert Einstein, dem SPD-Politiker Oskar Cohn sowie von Frau und Tochter. 1916 malte er Lasker-Schüler, die in München zum anthroposophischen Freundeskreis um den Schriftsteller Alexander von Bernus (1880-1965) gehörte und die über das ihr wenig attraktiv erscheinende Porträt erbost war, welches Bernus in der philosophisch-anthroposophischen Zeitschrift Das Reich veröffentlicht hatte.[51]

Ein bedeutender Teil von Stückgolds Werk ist Themen aus der jüdischen und der christlichen Mythologie gewidmet, die er häufig aufeinander bezog: In einem um 1918 entstandenen „Moses-Zyklus“ zeigt er den Propheten, wie er als Seher Christus am Kreuz erblickt oder vor diesem kniet, aber auch das Jesuskind, das, von Maria gehalten, auf die von Moses gehaltenen Gesetzestafeln zeigt. Die in diesen Bildern noch gesteigerte, kindlich-naive Einfachheit aus klarer Umrisszeichnung und leuchtenden Farben näherte sich anthroposophischem Kunstverständnis an.[52] Im Spätwerk band er Figuren in aufsteigende Sphärenklänge ein und verstand offenbar wie die Anthroposophen Kunst als Brücke zu höheren geistigen Wesenheiten. 1921 schuf er einen Zyklus von Tierkreisbildern, in denen er jüdische und christliche Figuren zu ornamentalen Kompositionen verband. Der expressionistische, der Anthroposophie nahestehende Schriftsteller Theodor Däubler (1876-1934) schrieb in der Kunstzeitschrift Der Cicerone: „Stückgold ahnt, ja schaut plötzlich die Herkunft eines Wesens von Planeten, aus Gestirnen. Er wittert des Menschen unendliche Beziehungen zu den flammenden Schriften, die der Schöpfer, uns zu Häupten, im Tierkreis emporsteigen und allmählich wieder versinken lässt. […] Hätten die Sterngläubigen bereits wieder einen Tempel, so müsste Stückgold ihn ausschmücken!“ (PDF 15) Steffen ergänzte 1923: „Aber er schaute auch in den Abgrund, in die totale Schwärze, in die Tiefe der Nacht hinein, und er beseelte diese Finsternis dadurch, dass er die Psalmen hebräisch für sich meditierte, sie sogar leise vor sich hinsang und dadurch eine innere Farbe in sich erweckte, und diese innere Farbe erfüllte dann die Dunkelheit und gestaltete ein wundersames Blau daraus. Aus diesem Blau entstanden für Stückgold die Imaginationen der Tierkreisbilder.“[53]

[50] Vergleiche auch Jerzy Malinowski: U źródeł polskiej awangardy. Przypomnienie Stanisława Stückgolda, in: Sztuka Europy Wschodniej, Band 3, Warschau 2015, Seite 201-207; Stanislas Stückgold 1868-1933, Ausstellungs-Katalog Galerie Uwe Opper, Kronberg im Taunus 2020. Der Nachlass von Stanislaus Stückgold befindet sich in Teilen in der Albert-Steffen-Stiftung und in der Kunstsammlung des Goetheanum in Dornach.
[51] „Ich bin noch krank vom Anblick des Stückgoldbildes – wir sind Alle krank geworden. Zum Kotzen? Aber ich glaub nicht, dass Sie mich beleidigen wollten. Ich hätte schon Selbstmord verübt falls ich noch bei meinem gerade nicht annehmbaren Gesicht noch so ††† aussehen würde. Aber Schwamm drüber!“ Else Lasker-Schüler an Alexander von Bernus, in: Sigrid Bauschinger: Else Lasker-Schüler. Biographie, Göttingen 2013, Seite 224. Als Lasker-Schüler Stückgold 1929 zufällig in Berlin begegnete, war ihr Zorn jedoch verflogen und sie veröffentlichte im Berliner Tageblatt eine freundliche Würdigung des Malers mit Erinnerungen an die Münchner Zeit mit Frau und Tochter (Berliner Tageblatt, Jahrgang 58, Nr. 69, Abend-Ausgabe, vom 9. Februar 1929). – Das Bildnis Else Lasker-Schüler, 1916, Öl auf Leinwand, 41 x 33 cm, Inv. Nr. 1017, befindet sich heute im Von-der-Heydt-Museum in Wuppertal. Weitere Gemälde in deutschen Museen: Die gelbe Blume, 1913, Öl auf Leinwand, 84 x 73 cm, Inv. Nr. G 13398, Städtische Galerie im Lenbachhaus, München; Das Stillleben am Fenster, 1913, Öl auf Malpapier, 104 x 77 cm, Inv. Nr. M 773, Museum Wiesbaden (Hans F. Schweers: Gemälde in Museen. Deutschland, Österreich, Schweiz, Teil I, Band 3, München 2008).

[52] Vergleiche Clemens Weiler: Stückgold, Wiesbaden 1962; Ausstellungs-Katalog Galerie Opper 2020 (siehe Anmerkung 50), Nr. 10, 11, 21, 23, 38 

[53] Albert Steffen: Das Tierkreisbilderbuch, in: derselbe, Kleine Mythen, Zürich 1923, Seite 22 f.