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„Der Sturm“ und seine polnischen Künstler 1910–1930

Titelseite von „Der Sturm“, 13. Jahrgang, 2. Heft, Berlin 1922, mit einer Zeichnung von Louis Marcoussis (Ludwik Kazimierz Władysław Markus, 1878-1941)

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Titelseite von „Der Sturm“, 13. Jahrgang, 2. Heft, Berlin 1922, mit einer Zeichnung von Louis Marcoussis (Ludwik Kazimierz Władysław Markus, 1878-1941)
Titelseite von „Der Sturm“, 13. Jahrgang, 2. Heft, Berlin 1922, mit einer Zeichnung von Louis Marcoussis (Ludwik Kazimierz Władysław Markus, 1878-1941)

Der Bildhauer Franz/Franciszek Flaum (1866-1917), der in der ersten Sturm-Ausstellung neben Kokoschka und den Malern des Blauen Reiter mit den Künstlern der Gruppe Fauves wie Braque, Derain, Dufy, Friesz und De Vlaminck sowie den Kubisten Delaunay und Herbin auftrat (PDF 11), stammte aus einer ursprünglich bayerischen Familie mit dem Namen „Pflaum“, die im 18. Jahrhundert nach Großpolen eingewandert war und sich seitdem polnisch assimiliert hatte. Geboren in Posen als Sohn eines Zimmermanns, studierte er dort zunächst bei dem Historienmaler und Bildhauer Marian Jaroczyński (1819-1901), anschließend mit Unterstützung einer Gesellschaft zur Förderung des wissenschaftlichen polnischen Nachwuchses[31] an den Kunstakademien in Berlin und München sowie an der Académie Julian in Paris. Bereits 1887 zeigte er eine Porträtbüste auf der Ersten großen Ausstellung polnischer Kunst in Krakau.[32] Nach dem Studium eröffnete er ein Bildhaueratelier in Berlin-Charlottenburg.

Flaum war der Schwager von Przybyszewskis erster Lebenspartnerin Marta Foerder (1872-1896) und verkehrte in dessen Kreisen. Der Schriftsteller und Anarchist Erich Mühsam (1878-1934 im KZ Oranienburg ermordet) erinnerte sich: „Bald saßen wir mit Peter Hille zusammen im ‚Vierzehntel-Topp‘, einer Destille am Potsdamer Platz, oder im Café Austria, bald zogen wir mit dem Lyriker Franz Evers, dem polnischen Bildhauer Franz Flaum, einem Freund Przybyszewskis, oder dem großen norwegischen Maler Edvard Munch durch die Friedrichstadt von einer Kneipe zur anderen, bald begegneten wir uns in dem Atelierhaus an der Möckernbrücke, wo Flaum seine an Rodin geschulten dämonisch-erotischen Skulpturen schuf und wo sich dann gewöhnlich noch der Redakteur des ‚Magazins für Literatur‘ Carl Philipps und mein alter Freund, der Stirnerianer Johannes Gaulke, einfanden.“[33] Der Schriftsteller Peter Hille war wiederum eng mit Lasker-Schüler befreundet. Für den Juristen und Kunsthistoriker Eberhard von Bodenhausen (1868-1918), der 1895 zusammen mit Przybyszewski und anderen die Kunst- und Literaturzeitschrift Pan gründete, schuf Flaum im Jahr zuvor dessen Büste.[34] 1897 veröffentlichte Przybyszewski im Deutschen Musenalmanach eine ausführliche Würdigung und Interpretation von Flaums bisherigem bildhauerischem Werk,[35] die 1904 in Berlin in einem Sammelband mit fünf Essays über Flaum erneut erschien.[36] 1906 gründete Flaum gemeinsam mit dem Maler Ignacy Stryczyński (*1898) ein polnisches Kabarett, das in dem berühmten Berliner Künstlertreffpunkt Café des Westens Erfolge feierte.[37]

Flaum schuf erotische, einerseits vergeistigte, andererseits triebhaft bewegte Ton- und Bronzeplastiken sowie Marmorskulpturen mit Titeln wie „Eva“, „Vampir“, „Alp“, „Fatum“, „Sein“, „Mann und Frau“, „Lust“, „Versuchung“ und „Liebe“, die bis zur Karikatur übertriebene körperliche Hässlichkeiten wie hängende Brüste, geschwollene Bäuche und irre Gesten nicht verleugnen und die noch dem Symbolismus nahestehen. Sie illustrieren den von Przybyszewski beschworenen Gegensatz von natürlichen Trieben und Intellekt. Der Schriftsteller sah in Flaums Plastiken einen „Ausdruck für den geschlechtlichen Pessimismus seitens des Mannes, Magier und Asket, der Ekel vor der Befleckung seiner Seele im Geschlechtlichen“ verspüre. In Flaums angeborener Religiosität würden sich „germanische und slawische Elemente vermischen.“[38] Offenbar haben sich Przybyszewski und Flaum gegenseitig beeinflusst. 

Der Schriftsteller, Dramaturg und Lyriker Georg Muschner-Niedenführ (1875-1915) schrieb 1904 in einer Rezension des Essay-Bandes über Flaum in der Zeitschrift Die Kunst für alle: „Er vergeistigte seine Kunst, indem er geistvolle Werke darzustellen suchte. Er wurde Bildhauer-Dichter. […] Diese Vergeistigung und Verinnerlichung entwickelte Flaum schließlich so weit, dass er sie als eine neue Lösung des plastischen Problems überhaupt gezeigt hat. Er gibt nicht mehr bloße Akte und Figuren, die irgendetwas darstellen sollen, sondern er schafft plastische Dichtungen, Kompositionen.“ (PDF 12) In der Sturm-Ausstellung zeigte Flaum 1912 vier Marmorskulpturen, „Vision“, „Wolke“ – eine Arbeit von 1900, bei der sich eine nackte Frau an einen riesigen Phallus lehnt –,[39] „Der Kuss“ und „Der Morgen“, sowie drei Bronzeplastiken und eine Gipsfigur, „Shakespeare“, „Prometheus“, „Auf dem Felsen“ und „Zwei Schwestern“. 1913 ging er nach Posen, wurde Mitglied des Verbands polnischer Künstler „Sztuka“/Towarzystwo Artystów Polskich „Sztuka“ und Präsident des Polnischen Künstlerkreises in Posen/Koło Artystów Polskich w Poznaniu. Sein künstlerischer Nachlass befindet sich im Nationalmuseum in Poznań/Muzeum Narodowe w Poznaniu. In der Stadt erinnern die von ihm geschaffenen Skulpturen an der Fassade der ehemaligen Bank Włościański, Plac Wolności 9, an den Bildhauer.[40]

Walden behielt die schnelle Folge von Ausstellungen bei und zeigte über achtzehn Jahre hinweg bis zum April 1930 mit wenigen Ausnahmen jeden Monat eine Ausstellung. Bis zum September 1913 waren es bereits siebzehn Ausstellungen mit damals jungen, aufstrebenden und heute berühmten Künstlern wie Campendonk, Jawlensky, Kandinsky, Klee, Marc, Münter, Werefkin, erneut der Gruppe Fauves, Gauguin, Segal, Delaunay, Severini und Archipenko um nur einige zu nennen. Nahezu alle Künstler hatte Walden vorher persönlich getroffen. Entweder kamen sie nach Berlin oder er besuchte sie auf einer seiner zahlreichen Reisen in ganz Europa. Nell Walden erinnerte sich an Besuche von Franz Marc, Delaunay, dem Dichter Guillaume Apollinaire sowie den Futuristen Marinetti und Boccioni in Berlin im Januar und Februar 1913. Das übrige Jahr seien sie und ihr Mann „fast ständig auf Reisen“ gewesen. In Wien besuchten sie erneut Loos und Kokoschka, trafen Künstler in Budapest, Lothar Schreyer in Hamburg und reisten schließlich über Barmen, Elberfeld, Düsseldorf und Köln nach Paris. Dort kamen sie erneut mit Apollinaire, Robert und Sonja Delaunay zusammen, trafen Gris, Léger, Chagall, Metzinger, Gleizes, Picabia und akquirierten Bilder des 1910 verstorbenen Henri Rousseau für eine Gedächtnisausstellung.[41] Die gesamte Reise habe der Vorbereitung des für September 1913 geplanten Ersten Deutschen Herbstsalons gedient, den Walden in Anlehnung an den berühmten, seit 1903 in Paris stattfindenden Salon d’Automne in Berlin etablieren wollte und der dann tatsächlich vom 20. September bis zum 1.Dezember 1913 in der Potsdamer Straße 75 mit 75 Künstlern aus zwölf Ländern und 366 Werken stattfand. In dieser bahnbrechenden Ausstellung, die von der Berliner Presse kaum zur Kenntnis genommen wurde, waren auch zwei polnische Künstler vertreten, die als solche weder an ihren Namen noch durch ihre Herkunftsorte erkennbar waren: Stanislas Stückgold aus München und Louis Marcoussis, den das Ehepaar Walden ebenfalls in Paris getroffen hatte (PDF 13).

[31] Towarzystwo Naukowej Pomocy dla Młodzieży Wielkiego Księstwa Poznańskiego/Gesellschaft für die wissenschaftliche Unterstützung der Jugend des Großherzogtums Posen, gegründet 1841 von Karol Marcinkowski und Maciej Mielżyński zur finanziellen Unterstützung talentierter mittelloser junger Polen im preußischen Teilungsgebiet auf dem Gebiet von Posen und Großpolen

[32] Katalog Pierwszej Wielkiej Wystawy Sztuki Polskiej w Krakowie, Krakau 1887, Seite 23, online: https://polona.pl/item/katalog-pierwszej-wielkiej-wystawy-sztuki-polskiej-w-krakowie-we-wrzesniu-1887-wystawa,NDcyNjMzNjM/28/#info:metadata

[33] Erich Mühsam: Ausgewählte Werke, Band 2, Publizistik. Unpolitische Erinnerungen, Berlin 1978, Seite 523 f., online: http://www.zeno.org/Literatur/M/M%C3%BChsam,+Erich/Schriften/Unpolitische+Erinnerungen/Die+zehnte+Muse

[34] Brief von Stanisław Przybyszewski an Baron Eberhard von Bodenhausen in Berlin, Kongsvinger, 14.6.1894, in: Stanisław Przybyszewski, Briefe 1879-1927 (aus dem Polnischen von Aurelia Jaroszewicz), Oldenburg 1999, Seite 49 f.

[35] Stanislaw Przybyszewski: Franz Flaum, in: Deutscher Musenalmanach für das Jahr 1897, herausgegeben von Wilhelm Arent, Wien, Leipzig 1897, Seite 103-108

[36] Franz Flaum. Fünf Essays von Stanislaw Przybyszewski, Rudolf von Delius, Samuel Lublinski, Emil Geyer, Cesary Jellenta, Berlin 1904

[37] Głuchowska 2012 (siehe Literatur), Seite 459

[38] Gabriela Matuszek: Krisen und Neurosen. Das Werk Stanisław Przybyszewskis in der literarischen Moderne (aus dem Polnischen von Dietmar Gass), Hamburg 2013, Seite 36

[39] Głuchowska 2012 (siehe Literatur), Seite 458, Abbildung 1

[40] Weitere Literatur: Piotr Szubert: Franciszek Flaum (Pflaum), auf: culture.pl (2002), https://culture.pl/pl/tworca/franciszek-flaum-pflaum; H. Kubaszewska: Flaum (Pflaum), Franciszek, in: Saur Allgemeines Künstlerlexikon, Band 41, München, Leipzig 2004, Seite 105
[41] Walden 1954 (siehe Literatur), Seite 13-18