„Der Sturm“ und seine polnischen Künstler 1910–1930
Titelseite von „Der Sturm“, 13. Jahrgang, 2. Heft, Berlin 1922, mit einer Zeichnung von Louis Marcoussis (Ludwik Kazimierz Władysław Markus, 1878-1941)
„Der Sturm“ – das ist zunächst eine der wichtigsten historischen Zeitschriften der künstlerischen Avantgarde in Deutschland. Gegründet in Berlin im März 1910 als Wochenschrift für Kultur und die Künste von dem Pianisten, Komponisten, Musik-, Literatur- und Kunstkritiker Herwarth Walden (1878-1941), vertrat sie mit Nachdruck den Expressionismus, aber auch andere zeitgenössische Kunstströmungen und erschien in unterschiedlicher Form und Aufmachung ohne Unterbrechung bis 1932. Ab 1912 betrieb Walden in der Potsdamer Straße 134a eine Kunstgalerie unter demselben Namen, „Der Sturm“, die aber nicht nur dort, sondern auch an anderen Orten in Deutschland und im europäischen Ausland Einzel- und Gruppenausstellungen der bedeutendsten zeitgenössischen Künstler aus ganz Europa zeigte oder sich an überregionalen Ausstellungsprojekten beteiligte. Bis 1930 fanden in der Berliner Galerie 195 bislang bekannte Ausstellungen statt, von denen 133 Kataloge erhalten sind. Zu 175 bekannten Ausstellungen in anderen deutschen und europäischen Städten sind 37 Kataloge überliefert.[1] Die Zeitschrift „Der Sturm“ und die Sturm-Kataloge bilden kaum zu überschätzende Dokumente der kunsthistorischen Entwicklung in Europa. Der hier veröffentlichte Beitrag liefert einen Überblick über die in der Zeitschrift und in den Ausstellungen beteiligten Literaten, Musiker und bildenden Künstler polnischer Herkunft, teilweise fußend auf vorangegangenen Untersuchungen von Marina Dmitrieva und Lidia Głuchowska und ergänzt durch die heute im Internet verfügbaren Suchoptionen sowie seitdem erschienene Literatur über bislang nicht berücksichtigte Künstler. Nicht immer war und ist aufgrund eingedeutschter Namensvarianten oder von Künstler-Pseudonymen die „polnische“ Herkunft dieser Personen sofort erkennbar, zumal die Zugehörigkeit zu weiteren national-kulturellen Hintergründen, nämlich zur jüdischen Abstammung, zu deutschen Urahnen, zur Herkunft aus Litauen, zu russischen, preußischen oder österreichischen Staatsangehörigkeiten während der bis 1918 andauernden Teilung Polens entsprechende Fragen aufwirft. Berücksichtigt werden hier in historischer Abfolge: Thaddäus/Tadeusz Rittner, Stanisław Przybyszewski, Franz/Franciszek Flaum, Louis Marcoussis (Ludwik Kazimierz Władysław Markus), Stanislaus/Stanislas/Stanisław Stückgold, Stanislaus/Stanislaw/Stanisław Kubicki, Teresa Zarnower/Żarnowerówna, Mieczysław Szczuka, Henryk Berlewi, Rosebery d’Arguto (Martin Moszek Rozenberg), Feliks Krassowski, Jesekiel David Kirszenbaum/Kirschenbaum und Lena Pillico/Pilichowska.
[1] Untersuchungen von Rainer Enders (Stand 2017), Dokumentation zur digitalen Sammlung der Sturm-Kataloge im Zentralinstitut für Kunstgeschichte, München (siehe Online-Nachweise).
Thaddäus Rittner: Und Pippa tanzt!, in: Der Sturm, Jahrgang 1910, Nr. 30, Berlin, Wien, 22.9.1910, Seite 238 f. (Nachdruck aus: Die Fackel, Wien, April 1906)
Thaddäus Rittner: Rettungsaktion. Aus dem Tagebuch eines sehr gewöhnlichen jungen Menschen, in: Der Sturm, Jahrgang 1911, Nr. 51, Berlin, Hannover, 18.2.1911, Seite 404 f. und Nr. 52, Berlin, Hannover...
Stanisław Przybyszewski: Das Geschlecht, in: Der Sturm, Jahrgang 1910, Nr. 31, Berlin/Wien, 29.9.1910, Seite 243 f. und Nr. 32, Berlin/Wien, 6.10.1910, Seite 251 f.
Erste Ausstellung. Tiergartenstrasse 34a. Der Blaue Reiter. Franz Flaum. Oskar Kokoschka. Expressionisten, Ausstellungs-Katalog Der Sturm, Berlin [12.3.-10.5.1912]
Georg Muschner-Niedenführ: Neue Bücher. Franz Flaum. Fünf Essays …, in: Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur, 19. Jahrgang 1903-1904, München 1904, Seite 459 f. (mit 3 Abbildunge...
Erster deutscher Herbstsalon Berlin 1913. Ausstellungs-Katalog Der Sturm, Berlin 1913 (Seite 25: Louis Marcoussis; Seite 29: Stanislaus Stückgold; Bildtafel Stanislaus Stückgold: Porträt der kleinen J...
Kuno Mittenzwey: Stanislaus Stückgold-München, in: Deutsche Kunst und Dekoration. Illustr. Monatshefte für moderne Malerei …, Band 40, Darmstadt 1917, Seite 345 f., Abbildungen Seite 346 f.
Theodor Däubler: Stanislaus Stückgold, in: Der Cicerone. Halbmonatsschrift für Künstler, Kunstfreunde und Sammler, XIII. Jahrgang, Leipzig 1921, Seite 183-185
Dreiundneunzigste Ausstellung. Albert Gleizes/Paris. Jacques Villon/Paris. Louis Marcoussis/Paris. Jules Evola/Rom. Tour Donas/Antwerpen, Sonja Delaunay-Terk/Madrid. Gemälde, Aquarelle, Zeichnungen, A...
International Kunst. Ekspressionister og Kubister. Malerier, grafik og skulpturer, Ausstellungs-Katalog Der Sturm, Ole Haslunds Hus, Kopenhagen, 1923, Berlin 1923 (Bildtafel Louis Marcoussis: Etude, S...
Hundertzwanzigste Ausstellung. T. Zarnower/Warschau. M. Szczuka/Warschau. Aurel Bernáth/Berlin. Lothar Schreyer/Weimar, Ausstellungs-Katalog Der Sturm, Berlin, Juni 1923
Hunderteinundzwanzigste Ausstellung. Gesamtschau, Ausstellungs-Katalog Der Sturm, Berlin, Juli 1923 (Nr. 52-54: Louis Marcoussis; Nr. 90: M. Szczuka; Nr. 107-108: Teresa Zarnower)
Nachruf auf Mieczysław Szczuka, M. Szczuka: Ein architektonisches Projekt (1924) sowie zwei Fotomontagen aus der Zeitschrift Blok (1924), in: Der Sturm, 19. Jahrgang, 1. Heft, Berlin, April 1928, Seit...
Titelseite von „Der Sturm“, 13. Jahrgang, 2. Heft, Berlin 1922, mit einer Zeichnung von Louis Marcoussis (Ludwik Kazimierz Władysław Markus, 1878-1941)
So gut wie alle 1927 in der Sturm-Ausstellung gezeigten Arbeiten gelten heute als verschollen. Lediglich die Katalognummern 18: „Bauer mit Schwein“, 53: „Wasserträgerpaar“ und 65: „Beth hamidrasch“ sowie einige Nummern mit Geigern, Blinden und bettelnden Musikern lassen sich den erhaltenen Werken direkt oder thematisch zuordnen. In diese Reihe mit folkloristischen Motiven gehört auch die im Katalog abgebildete Tuschezeichnung Nr. 13: „Vater und Sohn im Schnee“. Das abgebildete Gemälde „Disput“ greift mit dem am Tisch vor seinen Schriften sitzenden Rabbi erneut ein Motiv von Chagall auf, und zwar dessen 1912 entstandenes Gemälde „Der Rabbiner (Die Prise)“. Ein motivgleiches Aquarell mit dem Titel „On dit“ schuf Chagall 1921. Es erschien in der Sturm‑Zeitschrift als Vierfarbendruck[127] und wurde seitdem vom Sturm-Verlag durchgehend bis in die 1930er-Jahre als Kunstdruck vertrieben. Kirszenbaums dritte im Katalog abgebildete Arbeit, das Gemälde „Chazoth“ mit dem in den Umrissformen stark vereinfachten Porträt eines Rabbi während einer bestimmten Gebetszeit, erinnert an Einzelporträts, die der Maler erst in den Vierzigerjahren wieder aufnahm. Die Titel der übrigen Arbeiten deuten bis auf wenige Ausnahmen auf Volkstypen und alltägliche oder religiöse Genremotive, wie der Künstler sie aus dem jüdischen Leben in Staszów kannte.
Auch die zeitgenössische Kritik sah einen deutlichen Einfluss von Chagall auf Kirszenbaums Arbeiten. Ernst Collin (1886-1942 in Auschwitz ermordet), einer der Schriftleiter der linksliberalen Berliner Volks‑Zeitung, schrieb, die Motive seiner Arbeiten würden dreierlei verraten: „Erstens, dass er Russe, zweitens, dass er Jude ist, und drittens ein Jünger seines Landsmannes und Glaubensgenossen Marc Chagall. Die Seele des russischen Gettos ist in seinen Blättern. Nicht müde wird er, von alten bärtigen Juden, die den Talmud lieben, zu erzählen. Im nervösen Strich seiner Zeichnungen, in der farbigen Andeutung bei den Aquarellen zeigt sich – trotz aller Gebundenheit an Chagall – doch auch die Selbständigkeit eines überlegten stilistischen Ausdrucks.“[128]
Neben seiner freien künstlerischen Arbeit zeichnete Kirszenbaum (Abb. 47) zwischen 1926 und 1931 Karikaturen für die in Berlin erscheinende Satire-Zeitschrift Ulk, den Querschnitt und das Münchner Unterhaltungsblatt Jugend. 1929 war er auf der Jubiläumsausstellung zum zehnten Jahrestag der Novembergruppe vertreten. 1930 heiratete er Helma Joachim (1904-1944 in Auschwitz ermordet), die als Sekretärin für die Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehöriger arbeitete. Spätestens zu dieser Zeit verkehrte Kirszenbaum in radikal linken Kreisen. Er wurde Mitglied der Assoziation revolutionärer bildender Künstler Deutschlands (Asso), trat vermutlich der KPD bei, zeigte Werke in der KPD-nahen Ausstellung Frauen in Not und veröffentlichte Zeichnungen in kommunistischen Magazinen und Zeitungen. 1933 flohen er und seine Frau über Nacht vor den Nationalsozialisten nach Paris und ließen ihren gesamten Besitz in Berlin zurück.
Kirszenbaum fand schnell Anschluss sowohl bei den französischen als auch bei den aus ganz Europa zugewanderten Künstlerinnen und Künstlern der École de Paris,[129] beteiligte sich an Gruppen- und zeigte Einzelausstellungen. Künstlerisch konzentrierte er sich auf Volksszenen aus dem Ostjudentum und verlegte in seinen Gemälden biblische Überlieferungen wie etwa den Einzug Jesu in Jerusalem nach Staszów, der Stadt seiner Kindheit. Stilistisch wechselte er zwischen einem späten Impressionismus und farbigen Szenerien nach dem Vorbild der Gruppe Fauves. Bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wurde seine Frau nahe Paris interniert, während er in ein Lager nach Südfrankreich kam. Zur Jahreswende 1943/44 wurde Helma Kirszenbaum aus dem Sammellager Drancy ins Konzentrationslager Auschwitz deportiert und ermordet. Ihr Mann überlebte das Kriegsende in einem Versteck in Südfrankreich. Nach Paris zurückgekehrt, fand er neuen Lebensmut und künstlerische Betätigung mit Unterstützung der Baronin Alix de Rothschild, unternahm Reisen in die Mittelmeerländer und nach Brasilien. Kirszenbaum starb 1954 an einer Krebserkrankung.
[129] Vergleiche Nieszawer 2015 (siehe Literatur), Seite 177 f. / 428 f.
Titelseite von „Der Sturm“, 13. Jahrgang, 2. Heft, Berlin 1922, mit einer Zeichnung von Louis Marcoussis (Ludwik Kazimierz Władysław Markus, 1878-1941)
Angesehener Maler und Karikaturist in Berlin, flieht Kirszenbaum vor den Nationalsozialisten nach Paris, wird interniert und lebt im Untergrund. Seine Frau wird in Auschwitz ermordet.
Stanisław Kubicki war ein deutsch-polnischer Maler, Dichter und Schriftsteller sowie bedeutender Vertreter der künstlerischen Avantgarde in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen.