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„Der Sturm“ und seine polnischen Künstler 1910–1930

Titelseite von „Der Sturm“, 13. Jahrgang, 2. Heft, Berlin 1922, mit einer Zeichnung von Louis Marcoussis (Ludwik Kazimierz Władysław Markus, 1878-1941)

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Titelseite von „Der Sturm“, 13. Jahrgang, 2. Heft, Berlin 1922, mit einer Zeichnung von Louis Marcoussis (Ludwik Kazimierz Władysław Markus, 1878-1941)
Titelseite von „Der Sturm“, 13. Jahrgang, 2. Heft, Berlin 1922, mit einer Zeichnung von Louis Marcoussis (Ludwik Kazimierz Władysław Markus, 1878-1941)

Den Maler Stanislaus/Stanislas/Stanisław Stückgold (1868-1933) hatte Walden vermutlich ebenfalls 1913 in Paris kennen gelernt, kurz bevor dieser nach München wechselte. Enkel eines berühmten Rabbiners, war Stückgold in Warschau in einer wohlhabenden jüdischen Kaufmannsfamilie aufgewachsen. Nach dem Gymnasialabschluss absolvierte er an der Universität Zürich und an der Sorbonne in Paris ein Studium zum Chemie-Ingenieur.[42]Anschließend diente er in der russischen Armee, war als Assistent an staatlichen chemischen Laboren in Berlin und Düsseldorf tätig und leitete später in Warschau eine Chemie-Fabrik. Nach Zwischenstationen in London bei Eisenbahn- und Dampfschiffunternehmen kehrte er nach Warschau zurück und arbeitete dort als Fabrikleiter. Nachdem er sich 1905/06 an Aufständen gegen das Zarenregime beteiligt hatte und in Moskau und St. Petersburg inhaftiert worden war, entschied er sich für einen Berufswechsel. Mit achtunddreißig Jahren begann er ein Studium der Bildhauerei an der Kunstakademie in Warschau und wechselte nach einem halben Jahr nach München an die private Malschule des Ungarn Simon Hollósy (1857-1918). Mit diesem und den anderen Studenten verbrachte er die Sommermonate in der ungarischen Künstlerkolonie Nagybánya, wo er 1908 seine spätere Ehefrau, die in Siebenbürgen geborene Elisabeth von Veress (1889-1961), kennen lernte. 

Noch im selben Jahr ging das Paar nach Paris. Stückgold wurde Schüler von Henri Matisse, freundete sich mit Rousseau an, lernte Picasso, Otto Freundlich, Apollinaire und den Kunstkritiker André Salmon kennen. Bereits 1909 stellte er im Salon des Indépendants aus. Während des Sommeraufenthalts in Siebenbürgen wurde die Tochter Felicitas geboren, die ihr Leben lang halbseitig gelähmt blieb und an Epilepsie litt. 1913 lernte das Paar offenbar den russischen Kunsthistoriker Trifon Trapesnikov (1882-1926) kennen, der sich in München und Moskau für die Anthroposophie engagierte und mit Rudolf Steiner am Goetheanum in Dornach arbeitete. Das Ehepaar Stückgold folgte Trapesnikov nach München, weil es sich von Steiners Lehre Hilfe für die Tochter erhoffte, und trat dort in die Anthroposophische Gesellschaft ein. Stückgold knüpfte Freundschaften mit den Künstlern des Blauen Reiter, insbesondere mit Franz Marc und Marianne Werefkin, und eröffnete eine Malschule, die er bis 1921 betrieb. Walden zeigte von ihm im Ersten Deutschen Herbstsalon 1913 ein Stillleben, ein Interieur sowie ein „Bildnis der kleinen Judith Wolfskehl“, Tochter des im Münchner Kreis um Stefan George tätigen Schriftstellers und Übersetzers Karl Wolfskehl (1869-1948), das er im Katalog abbildete. 1913 und 1917 präsentierte die Münchner Galerie Hans Goltz, offenbar auf Vermittlung von Werefkin, Einzelausstellungen von Stückgold, denen eine ausführliche Besprechung in der Zeitschrift Deutsche Kunst und Dekoration folgte. Paul Klee, der von dem jungen Maler Max Peiffer Watenphul (1896-1976) um Unterrichtsstunden gebeten wurde, verwies diesen an Stückgold.[43]

Während der Münchner Räterepublik engagierte sich Stückgold im April 1919 im Rat der bildenden Künstler Münchens, hielt, wie im Bayerischen Kurier zu lesen war, fanatisch-doktrinäre Reden und gründete zusammen mit anderen eine eigene Organisation noch links vom Künstlerrat, den Aktionsausschuss revolutionärer Künstler,[44] dem auch Klee angehörte, und wurde vorübergehend verhaftet. Gegen Ende des Jahres trennten sich die Wege des Ehepaars Stückgold. Elisabeth ging nach Dornach, um von Steiner Rat für ihre Tochter zu erbitten, gefolgt von dem Mediziner, Anthroposophen und Literaten Albert Steffen (1884-1963). Steffen, den die Eheleute 1914 in München kennen gelernt hatten und den der Maler 1916 porträtierte, hatte nach eigener Aussage im Laufe der Zeit mit Elisabeth und ihrer Tochter eine „geistbegründete Gemeinschaft“ entwickelt.[45] Nach dem Tod von Steiner wurde Steffen 1925 Vorsitzender der Anthroposophischen Gesellschaft. 1922 war Stanislaus Stückgold in der polnischen Abteilung der Ersten Internationalen Kunstausstellung in Düsseldorf mit einem Gemälde „Der Schutzengel“, zwei Holzschnitten und einer Kreidezeichnung vertreten.[46] 1923 kehrte er nach Paris zurück, wo er bis 1926 erneut eine Malschule betrieb. 1931 war er offenbar wieder München, wo seine Teilnahme an einer Diskussion über den Religionsphilosophen Martin Buber (1878-1965) im Jungzionistischen Arbeitskreis belegt ist.[47] Nach seinem Tod im Januar 1933 gewannen Elisabeth Stückgold und Albert Steffen André Salmon dafür, in der Pariser Galerie Bernheim-Jeune eine Retrospektive des Malers zu organisieren.[48] 1935 heirateten Steffen und Elisabeth Stückgold.[49]

[42] Angela Matile: Stückgold, Stanislas, auf der Webseite der Forschungsstelle Kulturimpuls, Dornach, http://biographien.kulturimpuls.org/detail.php?&id=954. Ein dort erwähntes Studium auf dem „Polytechnikum in Warschau“ kommt nicht in Betracht, da ein solches seit 1831 nicht existierte. Das Polytechnische Institut/Instytut Politechniczny im. Cara Mikołaja II wurde erst 1898 eröffnet.

[43] Biografie Max Peiffer Watenphul, online: https://peifferwatenphul.de/de/bio/1914-1918/
[44] Joan Weinstein: Art and the November Revolution in Germany 1918-19, Chicago, London 1990, Seite 168
[45] Heinz Matile: „Wie die Schüler – Lehrer werden“. Zum „Adonis-Spiel“ von Albert Steffen, in: Hinweise und Studien zum Lebenswerk von Albert Steffen, Heft 5/6, Dornach 1986, Seite 3-56
[46] Katalog der ersten internationalen Kunstausstellung Düsseldorf 1922 vom 28. Mai bis 3. Juli 1922 im Hause Leonhard Tietz, A.-G., Düsseldorf 1922, Abteilung B: Ausländische Künstler. Polen (ohne Seite). Die von der Gruppe Das Junge Rheinland organisierte Ausstellung fand anlässlich des Kongresses der Union internationaler fortschrittlicher Künstler statt, auf dem auch Herwarth Walden anwesend war. Zu Kongress und Ausstellung siehe weiter unten.
[47] „Jungzionistischer Arbeitskreis. […] An der Diskussion beteiligten sich … Der Maler Stückgold …“ (Das jüdische Echo, 18. Jahrgang, Nr. 21, 22. Mai 1931, Seite 317, online: https://archive.org/stream/JudischeEcho/Jg.%2018%2C%20Nr.%2021%20%281931%29#page/n7/mode/2up/search/St%C3%BCckgold
[48] Exposition rétrospective d'œuvres de Stanislas Stückgold (1868-1933). Du 14 octobre au 27 octobre 1933, Ausstellungs-Katalog Galerie Bernheim-Jeune, Paris 1933
[49] Artikel Albert Steffen auf AnthroWikihttps://anthrowiki.at/Albert_Steffen. Weitere Literatur: Elisabeth Steffen [d.i. Elisabeth Steffen-Stückgold]: Selbstgewähltes Schicksal, Band 1, Dornach 1961, Seite 79-83; Clemens Weiler: Stückgold, Wiesbaden 1962; Stanislas Stückgold 1868-1933, Ausstellungs-Katalog Städtisches Museum Wiesbaden, Städtische Kunstsammlungen Bonn, Städtische Galerie München, Wiesbaden 1958; André Salmon: Stanislas Stückgold 1868-1933, Paris 1954