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„Der Sturm“ und seine polnischen Künstler 1910–1930

Titelseite von „Der Sturm“, 13. Jahrgang, 2. Heft, Berlin 1922, mit einer Zeichnung von Louis Marcoussis (Ludwik Kazimierz Władysław Markus, 1878-1941)

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Titelseite von „Der Sturm“, 13. Jahrgang, 2. Heft, Berlin 1922, mit einer Zeichnung von Louis Marcoussis (Ludwik Kazimierz Władysław Markus, 1878-1941)
Titelseite von „Der Sturm“, 13. Jahrgang, 2. Heft, Berlin 1922, mit einer Zeichnung von Louis Marcoussis (Ludwik Kazimierz Władysław Markus, 1878-1941)

Herwarth Walden, geboren am 16. September 1878 und mit bürgerlichem Namen Georg Lewin, war ältestes von drei Kindern des in Berlin-Friedrichshain ansässigen Urologen und späteren Sanitätsrats Dr. Viktor Lewin aus einer vermutlich aus Russland eingewanderten jüdischen Familie und dessen Ehefrau Emma, geborene Rosenthal.[2] Seine Eltern hatten für ihn den Beruf des Buchhändlers vorgesehen, er selbst hatte jedoch ein Musikstudium am Berliner Konservatorium durchgesetzt und ein Stipendium der Franz-Liszt-Stiftung für hervorragendes Klavierspiel erhalten. Er interessierte sich aber auch für Literatur und bildende Kunst. 1903 gründete er einen literarischen Verein, den Verein für Kunst, in dem berühmte Schriftsteller wie Heinrich und Thomas Mann, Frank Wedekind, Richard Dehmel, Rainer Maria Rilke, Karl Kraus, Paul Scheerbart, Alfred Döblin und Else Lasker-Schüler vor Publikum auftraten. Zwischen 1908 und 1910 redigierte er Kulturzeitschriften wie Nord und SüdDer KometMorgenDer neue Weg und Das Theater.[3] Alle diese Tätigkeiten entfremdeten ihn zunehmend von seinem Elternhaus, das für seine intellektuellen und künstlerischen Ambitionen kein Verständnis hatte. 1903 hatte er die Dichterin Else Lasker-Schüler (1869-1945) geheiratet, die das Pseudonym „Herwarth Walden“ für ihn fand. Die Verbindung zu seinen Eltern brach ab, als Lasker-Schüler ihnen „in einem Anfall von Unbeherrschtheit die Türe gewiesen“[4] hatte. Erst seine zweite Ehefrau, die Malerin, Musikerin, Schriftstellerin und Kunstsammlerin Nell Roslund, seitdem Nell Walden (1887-1975), die er 1912 nach der Scheidung von Lasker-Schüler heiratete, stellte die Verbindung zu den Eltern wieder her, die später sogar zu den Ausstellungs-Eröffnungen der Sturm-Galerie erschienen, zwar weiterhin wenig Verständnis für moderne Kunst aufbrachten, aber doch stolz auf die Leistungen ihres Sohnes waren. Walden, so erinnerte sich Nell Walden später, liebte seine Stadt, Berlin, sowie die drastische Ausdrucksweise und den pragmatischen Humor ihrer Bewohner. In seinen eigenen Dramen schilderte er Berliner Milieus.[5] Er habe sich nie als Jude, aber auch nicht als Deutscher, sondern als Europäer gefühlt. „Die deutsche Landschaft war ihm ebenso gleichgültig wie irgendeine andere auf der Welt […] Hätte Walden eine Wunschvorstellung von Heimat gehabt, dann wäre es wahrscheinlich die Vision eines abgeschlossenen Zimmers mitten in der Großstadt gewesen. Ein Raum, angefüllt mit Büchern …“[6]

Durch Lasker-Schüler lernte Walden den Wiener Schriftsteller und Herausgeber der satirischen Zeitschrift Die Fackel, Karl Kraus (1874-1936), kennen. Im Frühjahr 1909 reiste er offenbar nach Wien um mit Kraus die Herausgabe der Fackel in Berlin zu verhandeln und lernte dort auch den Architekten und Architekturkritiker Adolf Loos sowie den Maler Oskar Kokoschka kennen.[7] Ab Juli 1909 leitete Walden für die Fackel das Berliner Büro. Im September wurde er Chefredakteur der Zeitschrift Das Theater, die über das Berliner und Pariser Theaterleben berichtete. Als er vier Monate später im Zerwürfnis entlassen wurde, beschloss er, eine eigene Zeitschrift zu gründen, nahm finanzielle Hilfe von Kraus in Anspruch und orientierte sich in der Anfangsphase an der Fackel. Am 3. März 1910 erschien das erste Heft von Waldens neuer Wochenschrift für Kultur und die Künste, deren Titel, Der Sturm, so berichten Zeitzeugen, von Lasker-Schüler stammte und als deren Erscheinungsorte Berlin und Wien auf dem Umschlag standen. 

Die frühesten Hefte waren verschiedenen Gebieten der Kulturkritik und literarischen Essays gewidmet. Als erste Beiträge erschienen – offensichtlich aufgrund der Verbindung zu Waldens neuem Wiener Freundeskreis – ein Text von Kraus über Sinn und Unsinn der zeitgenössischen Operette, eine Geschichte von Loos über die Wertlosigkeit von Ornament und Dekoration in der modernen Architektur, gefolgt von Lasker-Schülers Kritik über den Schriftsteller Peter Baum sowie Texten von Salomo Friedlaender, genannt Mynona, und Samuel Lublinski, die ihre eigenen Werke rechtfertigten und die beide mit Walden, Lasker-Schüler und den Literaten aus dem Verein für Kunst befreundet waren. Im zweiten Heft folgten literarische Essays von Döblin und Lasker-Schüler, von Ludwig Rubiner über den belgischen Dramatiker Fernand Crommelynck, von Kraus zur Literaturkritik und von dem österreichischen Schriftsteller und Kunstkritiker Joseph August Lux über „Kunst und Ethik“. Erst ab der achten Nummer im April 1910 erschienen in einzelnen Heften künstlerische Illustrationen, zunächst großformatige Karikaturen ungenannter Künstler auf herausragende Persönlichkeiten der Zeit, nämlich auf den klassischen Philologen Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, den Maler Max Liebermann und den Theaterregisseur Max Reinhardt, letztere von dem Karikaturisten und Werbegrafiker Joe Loe (Joel/Josef Löwenstein, *1883). Ab dem zwölften Heft veröffentlichte Walden in regelmäßiger Folge Zeichnungen von Kokoschka, darunter in der Reihe „Menschenköpfe“ Porträts von Kraus, Loos und Walden sowie Zeichnungen zu Kokoschkas Drama „Mörder, Hoffnung der Frauen“, der späteren Oper von Paul Hindemith. Die Konzentration des Sturm auf die Literatur, die erste Phase der Zeitschrift, dauerte bis 1912,[8] beendet durch Waldens Trennung von Lasker-Schüler, dem Weggang etlicher Autoren und dem abrupten Ende der Freundschaft mit Kraus.[9]

 

[1] Untersuchungen von Rainer Enders (Stand 2017), Dokumentation zur digitalen Sammlung der Sturm-Kataloge im Zentralinstitut für Kunstgeschichte, München (siehe Online-Nachweise)

[2] Brühl 1983 (siehe Literatur), Seite 7

[3] Ebenda, Seite 24-26

[4] Walden 1954 (siehe Literatur), Seite 46

[5] Ebenda, Seite 46 f.

[6] Walden 1963 (siehe Literatur), Seite 16

[7] Der Sturm. Herwarth Walden und die europäische Avantgarde, Ausstellungs-Katalog Nationalgalerie Berlin (West), Berlin 1961

[8] Pirsich 1985 (siehe Literatur), Seite 61 ff.

[9] „Als wir zu Anfang des Jahres 1913 in Wien waren, wo mich Walden seinen Wiener Freunden als seine junge Frau vorstellte, vor allem Kokoschka und dem Wiener Architekten Adolf Loos, machte mich eines Abends Kokoschka im Café Central, wo die Wiener Künstler sozusagen den Tag und die Nacht verbrachten, auf einen einsamen Mann aufmerksam, der in einer Ecke des Cafés hinter einem Stoß Zeitungen saß, und sagte: ‚Das ist Karl Kraus.‘ Eine Annäherung fand aber nicht statt.“ (Walden 1963, siehe Literatur, Seite 17)