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„Der Sturm“ und seine polnischen Künstler 1910–1930

Titelseite von „Der Sturm“, 13. Jahrgang, 2. Heft, Berlin 1922, mit einer Zeichnung von Louis Marcoussis (Ludwik Kazimierz Władysław Markus, 1878-1941)

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Titelseite von „Der Sturm“, 13. Jahrgang, 2. Heft, Berlin 1922, mit einer Zeichnung von Louis Marcoussis (Ludwik Kazimierz Władysław Markus, 1878-1941)
Titelseite von „Der Sturm“, 13. Jahrgang, 2. Heft, Berlin 1922, mit einer Zeichnung von Louis Marcoussis (Ludwik Kazimierz Władysław Markus, 1878-1941)

Der literarischen Ausrichtung der frühen Zeit und der engen Verbindung zu Wien entsprach auch der Abdruck von immerhin acht Gesellschafts-Stücken und einer Literaturkritik eines österreichischen Schriftstellers polnischer Abstammung, des Ministerialbeamten Thaddäus/Tadeusz Rittner (1873-1921), zwischen März 1910 und Juli 1912. Bereits im dritten Heft der Zeitschrift erschien dessen exotisch-groteske Novelle „Vegetation“ (PDF 1). Rittner, der auch unter dem Pseudonym Tomasz Czaszka schrieb, wurde als Sohn des Juristen Edward/Eduard Rittner (1845-1899) und dessen Ehefrau Helene Tarnawska (†1921) in Lemberg geboren. Der Vater war Professor für Kirchenrecht an der dortigen Universität, 1883-85 deren Rektor und Vizerektor und befürwortete die Einführung des Polnischen als Vorlesungssprache. 1886 ging dieser nach Wien und arbeitete bis 1895 im Bildungsministerium, war 1895/96 Bildungsminister und 1896-98 Minister für Galizien. Tadeusz/Thaddäus kam als Zwölfjähriger nach Wien, besuchte das Gymnasium Theresianum, studierte Jura an der Wiener Universität und wurde 1897 promoviert. Nach einjährigem Praktikum an der Statthalterei in Brünn war er von 1898 bis 1918 im Ministerium für Kultus und Unterricht in Wien tätig, ab 1913 als Sektionsrat, ab 1916 als Regierungsbeauftragter zur Förderung des Volksschulunterrichts in Galizien und Leiter der Abteilung für schöne Künste. 1915 wirkte er als Direktor und Regisseur des Polnischen Theaters in Wien, wo er sowohl eigene als auch Stücke anderer Autoren aufführte. 1918 auf eigenen Wunsch in den Ruhestand versetzt, nahm er 1919 die polnische Staatsangehörigkeit an und versuchte vergeblich in Warschau eine angemessene Beamtenstelle zu finden. Von einem endgültigen Umzug nach Polen nahm er aufgrund einer Erkrankung und besserer Kurmöglichkeiten in Österreich Abstand und starb 1921 im Alter von 52 Jahren in Bad Gastein.[10]

Rittner, dessen Muttersprache Polnisch war, schrieb in beiden Sprachen, in der frühen Zeit zunächst in Polnisch und übersetzte dann selbst ins Deutsche, später umgekehrt. Entsprechend gilt er als Mittler zwischen der polnischen und der deutschen Sprache und Literatur. Beeinflusst wurde er vom neoromantischen, nationale Traditionen und Werte beschwörenden Dichterkreis des Jungen Polen/Młoda Polska um den Dramatiker und Maler Stanisław Wyspiański (1869-1907), aber ebenso bewunderte er die Deutschen Gerhart Hauptmann sowie Thomas und Heinrich Mann, die Norweger Knut Hamsun und Henrik Ibsen, den Österreicher Arthur Schnitzler und den Russen Anton Tschechow. 1894 erschien in der Krakauer Zeitung Czas seine erste, sofort preisgekrönte Erzählung, „Lulu“, der sechs Jahre später eine Novellensammlung folgte. Seine Dramen zu verschiedenen Themen der zeitgenössischen von Heuchelei, Lebensangst, erotischen Spannungen, Doppelmoral und Konfliktsituationen geprägten Gesellschaft der zerfallenden Donaumonarchie gehörten zu den meistgespielten Stücken der Zeit. Außerdem schrieb er für zahlreiche polnische und deutsche Zeitschriften Kolumnen, Theaterkritiken und Buchrezensionen, darunter für die in Krakau und Lemberg erscheinende illustrierte literarische, künstlerische und soziale Wochenzeitung Życie/Das Leben. In der gehobenen Wiener Gesellschaft spielte Rittner eine bedeutende Rolle. Er verkehrte ebenso in den Salons der Aristokraten, Politiker und hohen Beamten[11] wie auch im berühmten literarischen Salon der Schriftstellerin, Journalistin und Kunstkritikerin Berta Zuckerkandl (1864-1945), bei der sich die führenden Komponisten der Zeit wie Johann Strauss (Sohn) und Gustav Mahler, Literaten wie Arthur Schnitzler, Secessionisten wie Gustav Klimt und Theaterleute wie Max Reinhardt trafen. In den Feuilletons polnischer Zeitschriften brachte er dem dortigen Publikum das Kulturleben und die Alltagsatmosphäre Wiens und die literarische Bewegung der Wiener Moderne nahe.[12]

Eine engere Beziehung pflegte Rittner offenbar auch zu Karl Kraus, der im April 1906 Rittners Rezension oder „Ehrenrettung“, wie Kraus urteilte, des Märchendramas „Und Pippa tanzt!“ von Gerhart Hauptmann in der Zeitschrift Die Fackel veröffentlichte,[13] eine Verteidigung gegen die Verrisse der maßgebenden deutschen Kritiker von Maximilian Harden über Rainer Maria Rilke bis Alfred Kerr. 1913 beteiligte sich Rittner an einer von dem Schriftsteller und Verleger Ludwig von Ficker (1880-1967) in dessen Zeitschrift Der Brenner initiierten „Rundfrage über Karl Kraus“, an der unter anderem Lasker-Schüler, Dehmel, Wedekind, Thomas Mann, Peter Altenberg, Georg Trakl und Loos teilnahmen, und schrieb: „Karl Kraus ist einer der wenigen reinen Künstler unserer Zeit. […] Ich habe den größten Respekt vor der strengen Moral seines deutschen Stils und die innigste Freude an der dichterischen Kraft seiner gesellschaftlichen Ethik.“[14]

Einen Nachdruck von Rittners Rezension auf Hauptmanns „Und Pippa tanzt!“ publizierte Walden in der dreißigsten Nummer des Sturm im September 1910 (PDF 4). Zuvor waren dort im Juni im fünfzehnten Heft unter dem Titel „Théatre paré“ vier grotesk-absurde Gesellschafts-Szenen (PDF 2) und im Heft Nr. 28 das „Tagebuch eines Märchenkönigs“ erschienen (PDF 3). Zwischen Oktober und Dezember 1910 wurden von Rittner ein Gesellschaftsdrama über eine Vergewaltigung (PDF 5), ein kurzer Essay über die „Moral der Lotterie“ (PDF 6) und die Novelle über einen Menschen mit unbeugsamem „Charakter“ (PDF 7) veröffentlicht. Im Februar 1911 publizierte Rittner in zwei Folgen unter dem Titel „Rettungsaktion“ Szenen aus einer Hotel-Pension um einen von seiner Frau betrogenen Trinker und dessen Selbstmord (PDF 8). Anderthalb Jahre später, im Juli 1912, beendete Walden die Serie mit Rittners Novelle „Jour Fixe“ über einen literarischen Salon, der nach dem Ableben der Teilnehmer in einer Gruft auf dem Friedhof von Messina stattfindet (PDF 9) – ein Wiederabdruck aus dem im selben Jahr vom Autor im Deutsch-Österreichischen Verlag in Wien und Leipzig herausgegebenen Novellenband „Ich kenne sie“. 

[10] W. Schmidt-Dengler: Rittner, Thaddäus (Tadeusz), in: Österreichisches Biographisches Lexikon 1815-1950, Band 9, Lieferung 42, 1985, Seite 183, online: https://www.biographien.ac.at/oebl/oebl_R/Rittner_Thaddaeus_1873_1921.xml; Rotraud Hackermüller: Rittner, Tadeusz, in: Neue Deutsche Biographie 21, 2003, Seite 671 f., online: https://www.deutsche-biographie.de/sfz106078.html; Halina Floryńska-Lalewicz: Tadeusz Rittner (2004), auf culture.plhttps://culture.pl/pl/tworca/tadeusz-rittner

[11] Agnieszka Palej: Tadeusz Rittner und die Wiener Moderne, in: Avantgarden in Ost und West. Literatur, Musik und Bildende Kunst um 1900, herausgegeben von Hartmut Kirchner, Maria Kłańska, Erich Kleinschmidt, Köln, Weimar, Wien 2002, Seite 141-158, hier Seite 143

[12] Ebenda, Seite 145

[13] Thaddäus Rittner: Und Pippa tanzt!, in: Die Fackel, VII. Jahrgang, Nr. 22, Wien, 3. April 1906, Seite 9-13

[14] Ludwig von Ficker (Herausgeber): Rundfrage über Karl Kraus, Sonderdruck der Beiträge in der Zeitschrift Der Brenner, 3. Jahrgang, Heft 18-20, Juni/Juli 1913, Innsbruck 1917, Seite 31, online: https://archive.org/details/rundfrageuberka00fick/page/30/mode/2up