„Der Sturm“ und seine polnischen Künstler 1910–1930
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Der Dirigent, Komponist, Gesangslehrer und Chorleiter Rosebery d’Arguto (1890-1943 im KZ Auschwitz ermordet), mit bürgerlichem Namen Martin Moszek Rozenberg/Rosenberg, stammte aus dem Dorf Szreńsk unweit der masowischen Stadt Mława im ehemals russischen Teilungsgebiet. Der Sohn eines jüdischen Gutsbesitzers verbrachte seine Kindheit in Mława und Warschau und schloss sich als Fünfzehnjähriger der polnischen Unabhängigkeitsbewegung an. Um der Verhaftung durch die russische Polizei zu entgehen, floh er zur Jahreswende 1906 über die österreichische Grenze und ließ sich in Wien zum Dirigenten und Komponisten ausbilden. Nach einem Studienaufenthalt in Italien ging er nach Berlin und studierte an der Musikhochschule bei Georg Schünemann (1884-1945) Musikwissenschaften, bei dem Pianisten und Komponisten Gustav Ernest (1858-1941) Kontrapunkt und Musiktheorie und bei dem Kapellmeister, Dirigenten und Komponisten James Jakob Rothstein (1871-1941 im Getto Litzmannstadt/Łódź) Theorie und Komposition. Ab 1914 arbeitete er als Gesangslehrer am Ochs-Eichelberg-Konservatorium in Berlin. 1917 übernahm er den Berliner Schubert-Chor und gründet eine Reformgesangsschule, in der er auf „pädagogisch-künstlerischer“ und „experimentell-wissenschaftlicher“ Grundlage gemischten Kinder- und Chorgesang unterrichtete. 1919/20 gründete er die KPD-nahe Zeitschrift Die Weltrevolution. Wochenschrift für die Interessen des internationalen Sozialismus und Kommunismus. 1922 übernahm er die Leitung des Frauen- und Männerchors Neukölln, der sich in Gesangsgemeinschaft Rosebery d’Arguto umbenannte und dem Deutschen Arbeiter-Sängerbund angeschlossen war. Für diesen Chor, dem über zweihundert Erwachsene und neunzig Kinder angehörten, arrangierte er ein umfassendes Volkslied-Programm und entwickelt die „absoluten sinfonischen Gesänge“, in denen die menschlichen Stimmen als Instrumente fungierten.
Das Programm des Sturm-Abends, das mit einem Barockmadrigal von Heinrich Albert (1604-1651) „nach Art der Polen“ begann, umfasste klassische Stücke von Mozart, Beethoven und Schubert, französische Volkslieder für Kinderchor, eine Komposition „Die Judentochter“ von Herwarth Walden nach einem Liedtext aus „Des Knaben Wunderhorn“, vor allem aber Eigenkompositionen und Bearbeitungen von Rosebery d’Arguto, darunter „absolute symphonische Gesänge“ und solche nach russischen, deutschen und amerikanischen Volksweisen (Abb. 33). Knoblauch urteilte: „Nichts: als die reine Musik. Musik der Zukunft: Musik von Tausenden tüchtiger Volksgenossen gesungen: nackt, freudestrahlend, tiefernst, edel den Himmel bildend, den Himmel erfüllend!“. Nach der Revolution, so berichtete er, hätten sich „aus den Tiefen der arbeitenden Bevölkerung die proletarischen Gesangschöre“ gebildet, denen Rosebery d’Arguto erst die musikalische Form gegeben habe: „ein kundiger, geduldiger, liebevoller Meister […] hat aus der Masse den großen wegweisenden Volkschor der Zukunft zum Licht der Welt erhoben. Hat aus der Masse Form gebildet, individuelle Form, individuellen Geist der Musik.“ (PDF 28)
Im Mai 1925 erschien in der Sturm-Zeitschrift ein Porträt Rosebery d’Argutos (Abb. 34), gezeichnet von dem ungarischen Kubisten Hugó Scheiber (1873-1950), der seit 1922 in Berlin lebte. Im Frühjahr 1928 berichtete Walden in der Zeitschrift über einen Auftritt der Gesangsgemeinschaft Roseberg d’Arguto anlässlich eines Konzerts für die Gefangenen der Strafanstalt Plötzensee: „Da stehen etwa hundert versorgte und verarbeitete Männer, Frauen und Kinder. Da bricht Musik aus der Masse hervor. Ein Schrei. Ein Klang. Ein Leid. Eine Freude. […] Die Mitglieder der Gesangsgemeinschaft sind Arbeiter und Angestellte mit ihren Frauen, Kindern und Enkeln. Sie alle sind der Kunst ergeben, Werkzeuge ihrer menschlichen Empfindungen, Kunstwerk geworden …“[108] Am 25. September 1928 war der Chor mit Kompositionen von Rosebery d’Arguto am „Herwarth-Walden-Abend“ zu Waldens fünfzigstem Geburtstag im Theater am Schiffbauerdamm beteiligt. Dazu hatten sich ein Ehren‑ und ein Aktionskomitee sowie dreihundertvierzig aufgelistete Gratulanten, sämtlich berühmte Künstler, Architekten und Geistesschaffende aus dem In- und Ausland, darunter auch Rosebery d’Arguto, zusammengefunden.[109]
[108] Herwarth Walden: Aus der Zeit für die Zeiten. Morgenfeier in der Strafanstalt Plötzensee, in: Der Sturm, 19. Jahrgang, Heft 5, 1928, Seite 262; online: https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/sturm1928_1929/0084
[109] Anzeige Herwarth-Walden-Abend, in: Der Sturm, 19. Jahrgang, Heft 7, 1928, Seite 293, Gratulantenliste Seite 294; online: https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/sturm1928_1929/0115; vergleiche auch Brühl 1983 (siehe Literatur), Seite 73