„Der Sturm“ und seine polnischen Künstler 1910–1930
Mediathek Sorted
Seit der Novemberrevolution waren in Berlin neue Künstlergruppierungen entstanden, die neben avantgardistischer Malerei auch utopische und auf eine neue Gesellschaftsordnung gerichtete Konzepte in der Architektur propagierten. Ihre Ausstellungen und Aktivitäten fanden jedoch nicht im Sturm, sondern an anderen Orten statt. Der Arbeitsrat für Kunst, zu dessen Gründungsmitgliedern Walter Gropius gehörte, zeigte seine Ausstellung für unbekannte Architekten im April 1919 im Graphischen Kabinett J.B. Neumann, der späteren Galerie Nierendorf, am Kurfürstendamm. Im selben Jahr gründete Gropius in Weimar das Staatliche Bauhaus und verpflichtete in den folgenden Jahren die Sturm-Künstler Johannes Itten, Feininger, Klee, Lothar Schreyer und László Moholy-Nagy, die jedoch auch weiterhin in der Sturm-Galerie ausstellten. Vom Arbeitsrat für Kunst waren Arnold Topp und Heinrich Campendonk weiterhin im Sturm vertreten. Die im Dezember 1918 gegründete Novembergruppe zeigte ihre Sonderschauen regelmäßig auf der Großen Berliner Kunstausstellung. Viele Sturm-Künstler wanderten 1919 dorthin ab, was Walden mit dem Urteil „Verrat“ und Frustration über die deutsche Kunstszene quittierte. Um andere wie Rudolf Bauer, Georg Schrimpf und den 1917 von ihm neu entdeckten Johannes Molzahn kümmerte er sich weiterhin. Von den Berliner Dada-Künstlern war kein einziger in den Sturm-Ausstellungen präsent. Lediglich Kurt Schwitters aus Hannover vertrat die Dada-Szene bis 1928 in Ausstellungen der Sturm-Galerie. In der Sturm-Zeitschrift sah es allerdings anders aus: Von den 120 Mitgliedern der Novembergruppe kamen bis zum Ende der Zwanzigerjahre, so Georg Brühl, rund fünfzig aus dem Umkreis der Zeitschrift.[73] Hier waren sogar Architekten wie Max Taut und Erich Mendelsohn mit neuesten Architekturentwürfen vertreten.
Eher routinemäßig zeigte Walden vom Kriegsende bis zur Mitte der Zwanzigerjahre in den Sturm-Ausstellungen weiterhin Werke der französischen Kubisten. Seinem Interesse für Russland entsprang aber eine besondere Hinwendung zu Künstlerinnen und Künstlern aus Osteuropa. Bereits im November 1918 präsentierte er zahlreiche Werke des 1915 aus Russland nach Paris emigrierten russischen Künstlerpaars Michail Larionow und Natalja Gontscharowa. Während des Krieges hatte er enge Kontakte zur Zeitschrift der linken ungarischen Avantgarde, MA/heute, und deren Gründer Lajos/Ludwig Kassák geknüpft, der sich wie die polnische Zeitschrift Zdrój am Sturm und der Aktion orientierte. Mit Empfehlungen von Kassák kamen ab 1918 die ungarischen Künstler János/Hans Mattis Teutsch, László Moholy-Nagy, László Péri, Béla Kádár, Hugó Scheiber, Sándor Bortnyik, Aurél Bernáth, Lajos d’Ébneth und Gyula Hincz nach Berlin, die ebenso wie Kassák in den folgenden Jahren Einzel‑ oder Beteiligungen an Gruppenausstellungen im Sturm erhielten.[74] Hatte Walden schon im Ersten Deutschen Herbstsalon die tschechischen Künstler Emil Filla, Josef Gočár, Pavel Janák, Vincenc Beneš, Otto Gutfreund und Otakar Kubín ausgestellt, so repräsentierten Filla, Beneš, Kubín sowie Jan Zrzavý in den Zwanzigerjahren im Sturm die tschechische Avantgarde. Mit Xenia Boguslawskaja, Serge Charchoune, Alexandra Exter und Iwan Puni waren weitere russische Künstlerinnen und Künstler vertreten. Die Kroatin Vjera Biller zeigte ab 1921 in Einzel- und Gruppenausstellungen ihre Werke. M.H. Maxy repräsentierte ab 1923 die rumänische Avantgarde. Der bulgarische Literaturkritiker und expressionistische Dichter Geo Milew verkehrte seit 1919 fast täglich in Sturm-Kreisen, übersetzte Waldens Dichtungen, verlegte sie in Bulgarien und informierte die bulgarischen Künstler über das Geschehen im Sturm.[75]
Polen war in dieser Reihe ab 1923 durch das Künstlerpaar Teresa Zarnower/Żarnowerówna und Mieczysław Szczuka sowie Henryk Berlewi vertreten, die im folgenden Jahr in Warschau zusammen mit anderen die Gruppe Blokgründeten. Bei den Sturm-Veranstaltungen spielte der aus Szreńsk bei Mława stammende Komponist und Chorleiter Rosebery d’Arguto, mit bürgerlichem Namen Martin Moszek Rozenberg, von 1924 bis in den Beginn der Dreißigerjahre eine wichtige Rolle. Der Warschauer Bühnenbildner Feliks Krassowski war 1926 in der Sturm-Zeitschrift mit Entwürfen vertreten. 1927 erhielt der aus Staszów stammende polnisch-jüdische Maler Jesekiel David Kirszenbaum in der Sturm-Galerie eine umfangreiche Einzelausstellung. Und schließlich wurde 1930 die letzte Ausstellung der Sturm-Galerie von der seit langem in London ansässigen Malerin und Textildesignerin Lena Pillico/Pilichowska bestritten, die ebenfalls polnisch-jüdischer Abstammung war. Tatsächlich war die Mehrzahl der osteuropäischen Künstler im Sturm jüdischer Herkunft. Ob diese Tatsache für Walden, der die jüdische Religion nicht praktizierte, aber mit dem chassidischen Judentum sympathisierte, eine Rolle spielte, bleibt fraglich.[76]
1921 traf Berlewi in Warschau den russischen Konstruktivisten El Lissitzky (1890-1941), der sich dort auf Einladung der jüdischen Kultur-Lige aufhielt, und siedelte im Jahr darauf nach Berlin über. Dort traf er mit zahlreichen Vertretern der europäischen Avantgarde wie Viking Eggeling, Mies van der Rohe, Moholy-Nagy, Hausmann, Van Doesburg und sicher gleich zu Beginn mit Walden zusammen. Außerdem dürfte er Walden Ende Mai 1922 auf dem Kongress der Union internationaler fortschrittlicher Künstler in Düsseldorf getroffen haben, an dem Walden, wie bereits erwähnt, als Vertreter des Sturm teilnahm. Berlewi vertrat auf dem Kongress zusammen mit Adler die jüdische Kultur-Lige für Osteuropa.[77]