Janina Musiałczyk. W drodze, unterwegs
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Musiałczyks Lehrer an der Kunsthochschule in Łódź, Stanisław Fijałkowski, einer der profiliertesten Vertreter der polnischen Malerei des 20. Jahrhunderts, knapp 50 Jahre Dozent, Dekan und Professor an der Hochschule in Łódź und Gastprofessor in Mons, Gießen und Marburg, war Schüler von Strzemiński. Nach anfänglicher Orientierung am Kubismus und unter dem Einfluss der Schriften von Wassily Kandinsky entwickelte er in den 1960er Jahren einen flächigen abstrakten Stil, dessen fest umrissene Formen auch als abstrahierte Gegenstände in einer poetischen, transzendenten Realität wahrgenommen werden konnten.[40]
Während Fijałkowski sich außerdem für den Surrealismus interessierte, schrieb Musiałczyk bei ihm 1967 ihre Diplomarbeit über einen Nebenaspekt des Art brut, die „Eigenart der Malerei der Naiven“. Während Dubuffet Art brut als Kunst von Außenseitern verstand, hatte sich die Naive Kunst als Malerei und Bildschnitzerei von Laien auf hohem Niveau in Polen seit Mitte der Sechzigerjahre und später auch europaweit in Ausstellungen als anerkannte Kunstrichtung etabliert. „Bezeichnend für die Naiven“, schrieb Musiałczyk, sei „die Gegenwart einer eigentümlichen und selbstzeugenden Poesie, einer originellen und innigen, welche die emotionale Verbindung zwischen der Außenwelt und der Welt innerer Ergriffenheiten und Erlebnisse ist. In ihren Bildern gibt es eine Intensität der Emotionen, die sich dem Betrachter umso mehr mitteilt, als sie keiner fremdbestimmten Ästhetik unterliegt, ohne Kulturverweise auskommt, wobei ihre Symbolik elementar und lesbar ist. […] Die Kunst der Naiven verblüfft durch das Fehlen von Formeln und Regeln, sie ist eine ungezähmte Kunst, deren einziger Ansporn das tiefe Bedürfnis ist, auf welche Art und Weise auch immer ein Bild der Ergriffenheiten, Ereignisse, Erinnerungen und Träume zu schaffen.“[41]
Diesen „Ansporn“ hat Musiałczyk sich auch als Motto für ihre eigene Kunst gewählt. Anders als ihr Lehrer beschritt sie in ihrer freien Arbeit einen figürlichen Weg, so dass man sie im weitesten Sinn der Neuen Figuration zurechnen würde. Sie stellte die menschliche Figur sowie eindeutig bestimmbare Gegenstände wie Häuser, Wagen und landschaftliche Elemente ins Zentrum ihrer Bilder. Mit ihrer Konzentration auf seelische und existenzielle Zustände des Menschen, der Abstraktion der Gegenstände, der Vereinfachung der Figuren und deren außergewöhnlicher Gestik ähneln ihre Arbeiten am ehesten der Nowa Figuracja, die sich in Polen in den Sechzigerjahren nicht nur durch die genannten Künstler, sondern auch durch die qualitätvolle und außergewöhnlich präsente polnische Plakatkunst etabliert hatte.
Im Jahr ihres Studienabschlusses wurde sie Mitglied im Verband der polnischen Kunstschaffenden (Związek Polskich Artystów Plastyków, ZPAP) und beteiligte sich seitdem an dessen Ausstellungen. Ebenfalls seit 1967 widmete sie sich als Leiterin der Ateliergruppe für bildende Kunst im Palast der Jugend (Pałac Młodzieży) in Łódź der künstlerischen Ausbildung von Kindern und Jugendlichen. Während der 14 Jahre ihrer kunstpädagogischen Tätigkeit bis zu ihrer Ausreise nach Deutschland unterrichtete sie später bedeutende Kulturschaffende, darunter Marek Pabich, heute Direktor des Instituts für Architektur und Stadtplanung (Instytut Architektury i Urbanistyki) der Technischen Universität Łódź (Politechnika Łódzka), der Maler Dariusz Fiet, ebenfalls ein Schüler von Fijałkowski, die zuletzt in Nierstein bei Mainz arbeitende Buchgestalterin Iga Bielejec, die in Łódź ansässige Grafikdesignerin Małgorzata Misiowiec, der Maler, Objektkünstler und Fotograf Tymoteusz Lekler sowie der Restaurator Krzysztof Nast, zuletzt tätig am Museum Schloss Moyland in Bedburg-Hau.[42]
Der Maler Wojciech Leder, zuletzt Leiter eines Malateliers und Professor an der Akademie der Schönen Künste Władysław Strzemiński in Łódź (Akademia Sztuk Pięknych im. Władysława Strzemińskiego w Łodzi), auch er Schüler von Fijałkowski, erinnerte sich 1998 anlässlich einer Hamburger Ausstellung von Musiałczyk: „Ich habe das Glück, ein Schüler von Janina Musiałczyk zu sein. Sie hat mich angeleitet, als ich in einem Alter war, in dem man besonders empfänglich ist für die Welt der Illusionen. Denn besteht nicht die erste Berührung mit Kunst in dem aufmerksamen Lernen, die Erscheinungsweise der Natur nachzubilden?“[43]
Der Maler, Performer, Gestalter von Animationsfilmen und Professor an der Filmschule Łódź (Szkoła Filmowa w Łodzi), Mariusz Wilczyński, ebenfalls Diplomant bei Fijałkowski, resümierte: „Meine ganze Energie bündelte sich im Pałac Młodzieży, dort traf ich Darek Fiet, den späteren herausragenden Künstler […] oder Marek Pabich, heute ein renommierter Architekturprofessor. […] Janina Musiałczyk entfachte in uns das Gefühl, etwas Besonderes zu sein, wir fühlten uns wie Cézanne, Matisse oder Renoir […]. Wir spürten damals einen großen Drang, große Leidenschaft. Das ist das gewaltige Verdienst von Janina Musiałczyk, unserer Lehrerin für Malerei und Zeichnung im Pałac Młodzieży.“[44]
[40] Stanisław Fijałkowski: 04.08.66, 1966, Öl auf Leinwand, 30 x 23 cm; 22 I 68–69, 1968, Öl auf Leinwand, 72 x 59,5 cm; beide Nationalmuseum Warschau/Muzeum Narodowe w Warszawie.
[41] Janina Musiałczyk: Specyfika malarstwa naiwnych (dt. Die Eigenart der Malerei der Naiven), Diplomarbeit, Akademia Sztuk Pięknych im. Władysława Strzemińskiego, Łódź 1967, Seite 6 f. (Übersetzung aus dem Polnischen: F.L./Z.M.).
[42] Vergleiche hierzu die Erinnerungen zu Musiałczyks kunstdidaktischer Arbeit von Nast, Misiowiec, Pabich und Piotr eL. (Częstochowa) unten im Anhang zu diesem Text.
[43] Wojciech Leder: Unveröffentlichter Essay anlässlich der Ausstellung Janina Musiałczyk. Federstriche von Heute, Farbschichten für Gestern, Künstlerhaus Hamburg-Bergedorf, 10.2.1998.
[44] Jerzy Armata: Z Armatą na Wilka. Animowany blues Mariusza Wilczyńskiego, Warschau 2011, Seite 33 f.