Janina Musiałczyk. W drodze, unterwegs
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Schatten an der Wand
„Heiligabend. Die Oblate. Auf dem großen Tisch alles so wie immer und eine Ananas. Stundenlang sitze ich am Tisch und zeichne Steine.“ Drei Monate zuvor, im Oktober 1981, hatten Janina Musiałczyk, ihr Ehemann und ihre Tochter wieder einmal eine neue, vorübergehende Unterkunft im zweiten Stock eines Hochhauses in Hamburg-Steilshoop bezogen.
Die Häuser seien schöner gewesen als die in der Siedlung Zgierska Stefana im polnischen Łódź, von wo die Familie im Mai 1981 zu einer Odyssee über Schweden nach Deutschland aufgebrochen war, schreibt die Künstlerin in ihrem Buch „Zeichnungen und Texte“. In der Wohnung in Steilshoop zu siebt mit einer anderen Familie zu leben, war geradezu ein Trost in der fremden, neuen Welt, „sieben Metallbetten, sieben Kissen, sieben Decken, sieben Bettlaken, sieben Stühle, ein Tisch und sieben Handtücher“. Im Esszimmer mit der rosafarbenen, geblümten Tapete verbrachten sie viele Stunden. Auf dem Küchenfußboden liefen in der Nacht die Kakerlaken. Von einer unbekannten Spenderin erhielten sie zu Weihnachten ein Paket. Am 13. Dezember hatte in Polen das Regime von General Jaruzelski das Kriegsrecht ausgerufen. Seitdem hörte die Familie Tag und Nacht die in München produzierten Sendungen der polnischen Sektion von Radio Free Europe.[1]
Wohnungen sind für Janina Musiałczyk ein fundamentaler Ausdruck der menschlichen Existenz. Sie empfand die Wohnung der Eltern, angemietete Zimmer, vorübergehende Unterkünfte und längerfristige Wohnsitze einerseits als Behausungen und Rückzugsorte, andererseits als Adressen des Übergangs, als Stationen verschiedener Lebensalter oder als Fluchtpunkte. Wohnungen verkörpern für sie Orte der Ankunft und des Abschieds, des Wartens auf die Eltern oder den Geliebten. Sie fungieren als Arbeits- und Kreativräume, sind Ausdruck des sozialen Stillstands oder Stufen zu Wohlstand und Glück. Wohnungen werden zu Plätzen der Angst und verändern sich zu Orten, an denen Feste gefeiert werden. Sie vermitteln Sicherheit und Hoffnung auf eine bessere soziale und gesellschaftliche Zukunft. Ehemalige Unterkünfte werden für die Künstlerin zu Ankern der Erinnerung.
Sie beginnt den Reisebericht durch ihr Leben, den sie 2001 in Hamburg in ihrem Künstlerbuch „Zeichnungen und Texte“ niedergeschrieben hat und der von Wohnung zu Wohnung führt, 1946 in einem Hinterhaus im polnischen Pabianice. Da war sie drei Jahre alt und ihre Großmutter lag auf dem Bett in der Zimmermitte unter einer weißen Decke im Sterben.[2]
Im Jahr darauf zog die Familie nach Łódź in die ul. Bednarska: „Vierter Stock, Zimmer mit Küche. Auf demselben Stockwerk gegenüber die Waschküche mit einem riesigen Kessel für weiße Kochwäsche. […] Ich bin allein zu Haus … Ich zwänge mich in den Spalt zwischen Ofen und Wand und warte, bis meine Eltern von der Arbeit zurückkommen. Am Samstag nach dem großen Wäschewaschen das Bad. Zuerst Ela, danach ich, wir klettern hinauf in den riesigen Kessel und schwelgen in dem warmen Wasser.“[3]
Schon bald folgte ein weiterer Umzug. 1948 wohnte die Familie in der ul. Dygasińskiego: „Erdgeschoss, zwei längliche Durchgangszimmer und eine kleine quadratisch geschnittene Küche. […] Aus dem Schlafzimmerfenster sieht man das Haus an der ul. Bednarska, von dem Schornstein hängt ein roter Morgenmantel herunter. Er ist eine Frau, die sich das Leben genommen hat. […] In dieser Wohnung ist es eng. Ich suche nach einem Platz für mich.“[4]
1964 zog die erwachsene Janina, inzwischen 20 oder 21 Jahre alt, in das leer gewordene Zimmer in der Wohnung einer Schulfreundin. Im Jahr darauf wechselte sie in eine kleine helle Stube bei zwei alten Damen. Sie studierte nun seit acht Semestern an der Kunstschule in Łódź. Nachts entwarf sie Seidentücher für ein Unternehmen, das Schals, Tücher und Krawatten produzierte. Am Wochenende kam ihr Verlobter aus Warschau zu Besuch. Im folgenden Jahr mieteten beide zusammen ein acht Quadratmeter großes Zimmer zur Untermiete mit Küchen- und Badbenutzung unweit des Parks in der Altstadt: „Der Schrank, das Sofa, der kleine Tisch, zwei Stühle und Papiere, Rollen, Leinwände, Farben, Pinsel.“[5]
1967 zogen sie ein paar Straßen weiter in die erste richtige Wohnung: „Wir streichen alles dunkelblau an: den kleinen quadratischen Tisch, die Sessel, den Schrank im Flur, auch die Türen und Fenster. […] Hier auf diesen einundzwanzig Quadratmetern mache ich mein Diplom, verkaufe das erste Bild. Hier feiern wir Partys. Joanna bringt aus dem Grandhotel große Vorspeisenplatten.“[6] Bald wurde ihre Tochter geboren.
[1] Janina Musiałczyk: Rysunki i teksty. Zeichnungen und Texte, Typographie: Iga Bielejec, Selbstverlag, Hamburg 2001, Seite 36.
[2] Ebenda, Seite 4.
[3] Ebenda, Seite 6.
[4] Ebenda, Seite 8.
[5] Ebenda, Seite 14.
[6] Ebenda, Seite 16.
1978, Janina Musiałczyk war seit elf Jahren Leiterin der Kunstgruppe im Palast der Jugend (Pałac Młodzieży), bezogen sie eine große Eigentumswohnung in der neu errichteten Hochhaussiedlung Zgierska Stefana im Stadtteil Stare Bałuty am nördlichen Stadtrand von Łódź. „In meinem Arbeitszimmer“, schreibt sie, „steht ein riesiger Webstuhl. Über ihm bunte, in der Badewanne gefärbte Schafswolle. Stundenlang webe ich Gobelins mit Malven, Bäumen und Landschaften. Für den Verkauf. […] Hinter dem Fenster riesige Hochhäuser. Leuchtende Fenster, Fensterreihen. Eine rhythmische Komposition. An dem runden kleinen Strohteppich sitzen wir auf dem Fußboden. Ich und meine engsten Schüler. Wir trinken Cocktails aus hohen Gläsern. Die Zeit langer Gespräche.“[7]
Drei Jahre später ging auch diese Zeit zu Ende. Unter dem Druck der politischen Verhältnisse verließ die Familie Polen. Am 27. Mai 1981, erinnert sich Musiałczyk, „gehen wir mit drei kleinen Koffern und drei Regenschirmen aus der Wohnung. Staszek, Zuzia und ich.“[8] Über Malmö, wo die Familie zwei Monate lang bei Bekannten und einem polnischen Emigranten wohnte, erreichte sie schließlich am 21. Juli 1981 Hamburg. Es folgte eine erneute Odyssee, die während des kommenden Vierteljahrs durch drei Hotels und das Zimmer einer Wohngemeinschaft führte. Anfang Oktober waren sie schließlich in der Hochhaussiedlung in Hamburg-Steilshoop angekommen.
Zwei Jahre später, im Frühjahr 1983 wohnten sie weiterhin in derselben Siedlung, allerdings in einem anderen Haus: „Vierter Stock, drei Zimmer, ein Balkon, Teppichboden vom Vormieter, beige, schmutzig. Die Möbel im Schlafzimmer auch von ihm. Ein weißer riesiger Wandschrank. […] An den Wänden hänge ich Zeichnungen auf, immer mehr schauende Steine.“[9]
Über eine Zwischenstation in Hamburg-Farmsen fand die Familie schließlich im Herbst 1987 in Hamburg-Volksdorf ihre endgültige Bleibe: „Die Wände tapezieren wir und streichen sie weiß an. Ich hänge Bilder auf. Die Bilder werden mehr und mehr. […] Im Frühling frühstücken wir auf dem Balkon … Wir empfangen Gäste, auf dem Tisch steht eine Mokkatorte […] In meinem Zimmer an dem großen Holztisch zeichne ich mit schwarzer Tusche die Wanderungen. An der Wand eine Fotozeichnung von Piotrek mit dem riesigen schwarzen Stein, der Engel von Fijałkowski […] Ich sehe zum Fenster hinaus, an dem Zaun huscht eine Ratte vorbei. Ich rufe das Ortsamt an. ‚Es sind Wanderratten, sie ziehen von Stadt zu Stadt.‘“[10]
Den Innenräumen ihrer Lebensgeschichte stellte Musiałczyk auf den rechten Seiten ihres Buches das äußere Geschehen in Form einer Bilderstrecke aus mit schwarzer Tusche gestempelten Grafiken gegenüber. Hunderte von wandernden, vornüber gebeugten Personen formen sich zu anfänglich geordneten und dann wieder zerfallenden, wogenden oder marschierenden Menschenmassen in mehr oder minder geordneten Reihen oder diffusen Gruppen, aus denen einzelne oder auch mehrere Figuren herausstürzen, übereinander fallen, sich in einer kreisförmigen Mitte vereinzeln, seitlich aus der Menge heraustreten oder sich wieder in sie zurückbewegen. Alle gleich, erhalten sie doch eine gewisse Persönlichkeit durch den unterschiedlichen Farbauftrag, der, anfänglich satter, sich beim fortlaufenden Stempeln verliert. Die Tafeln stammen aus der im Jahr 2000 geschaffenen Serie „Fortgang, Exodus“ (Abb. 45–48 . ), welche die persönlichen Erlebnisse des Weggangs aus Polen auf die allgemeine Ebene von Fluchtbewegungen hebt. Aus der Masse herausgetreten, findet sich schließlich der Mensch im Kampf mit sich selbst (Abb. 49 . ).
[7] Ebenda, Seite 20.
[8] Ebenda.
[9] Ebenda, Seite 38.
[10] Ebenda, Seite 42.
Ihre emotionale Bindung an Häuser und Wohnungen verbildlichte Musiałczyk in verschiedenen zeitlichen Perioden und Bildserien ihres malerischen und zeichnerischen Werks. Eng mit dem Themenkomplex von Flucht und Migration verbunden, zeichnete sie 1993 in der Folge „Kommen, werden, gehen“ (Abb. 32–39 . , 42 . ) Menschen mit Leiterwagen auf ihrer Wanderschaft über verschlungene, spiralförmige und kopfstehende Wege. Die Wagen bergen Häuser und ganze Städte, die als Last der Erinnerung mit sich geführt werden. Bürden der Erinnerung sind aber auch Menschen, die am Rücken festgebunden, gefesselt und in langer Reihe hinter sich hergezogen, als sitzendes Paket hinterher geschleppt oder als Kranke und Sterbende zu den Häusern und Städten hinzugelegt werden. Häuser, die beim Weggang verlassen werden oder bei der Ankunft verschlossen bleiben, zeigen sich mit vernagelten Fenstern und Türen.
1995/96 zeichnete sie in der Serie „Begegnungen unterwegs“ Figuren, die ganze Städte auf dem Rücken und der Brust mit sich tragen (Abb. 1 . ). Andere haben ihr Haus für die Reise zu zweit auf Räder gestellt (Abb. 69 . ), führen es auf einem Beiwagen mit sich (Abb. 68 . ) oder balancieren es auf dem Arm (Abb. 67 . ), während sie gleichzeitig mit Rädern, die eigentlich der schnellen Fortbewegung dienen sollen, jonglieren: Metaphern für eine zwischen Gehen und Bleiben schwankende Existenz. Noch in der dritten, 2012 entstandenen Serie zeigt die Künstlerin ein sich intim zugewandtes Paar, dessen männliche Figur das Haus ihrer Herkunft und Jugend als schwere Bürde mit sich trägt (Abb. 51 . ).
„Unterwegs“ begegnen wir in großformatig ausgeführten Acrylgemälden Einzelfiguren und Paaren, die sich eingezwängt in Häuser oder in auf Räder gestellten Räumen, Gefängnissen ihrer Erinnerung, auf die Fahrt begeben haben (Abb. 5 . , 6 . ). In einer späteren Zeichnung dieser Folge (1998, Abb. 63 . ) führt eine riesenhafte, hoch aufgerichtete und selbstbewusste weibliche Gestalt, die mit schweren Schuhen durch die Landschaft wandert, ein winziges Haus auf Rädern, das die Heimat oder den Schatz an Erinnerungen in sich birgt, als beständiges Anhängsel mit sich.
In denselben Jahren schuf die Künstlerin unter dem Titel „Es taumelt“ sowohl in der Malerei als auch in Tuschezeichnungen Ansichten fragil übereinander gestapelter oder durcheinander fallender Häuser und Kirchen,[11] die an die Bildwelt von Marc Chagall erinnern. Chagall schilderte in Gemälden vor dem Ersten Weltkrieg ebenso wie in den Radierungen der Folge „Mein Leben“ (1922/23) nach der Emigration nach Berlin die Alltagswelt seiner Heimatstadt Witebsk, der jüdischen Vorstadt und der russischen Dörfer, in denen Häuser, Straßen, möblierte Interieurs und Menschen in geordnetem Chaos durcheinander schweben und stürzen und so zu Ankern der Erinnerung werden: „Es scheint mir, dass ich fern der Heimat ihr näher war, näher als viele andere, die dort lebten …“[12] Auch er balanciert auf seinem „Selbstporträt“[13] das Elternhaus auf dem Kopf: „Kirchen, Zäune, Synagogen ringsrum, einfach und ewig wie die Gebäude auf den Fresken von Giotto […] Hier, in der Pokrowskaja-Straße, wurde ich zum zweiten Mal geboren.“[14]
Die von Musiałczyk für die Serie „Es taumelt“ geschaffenen Zeichnungen wirken allerdings dramatischer. Hagere menschliche Figuren, die im Schrecken erstarrt und doch in heller Aufregung sind, stehen und liegen übereinander vor der Kulisse einer Stadt. Feste Schuhe und untergeschnallte Räder deuten auf den Beginn der Emigration. Die Schornsteine der Stadt rauchen bedrohlich (Abb. 40 . ). Explosionsartig verlieren sich Gebäude im Himmelsraum, eine aufgestellte Leiter führt ins Nichts (Abb. 41 . ). Ein panisch schreiendes Gesicht, das in einen schwarzen Raum eingezwängt ist, wird von rollenden und fliegenden Rädern bedrängt und gequält (Abb. 44 . ).
„In der Kunst ist das Haus meistens eine Metapher für einen dem Menschen nächsten Raum, ein Zeichen für Zuflucht und Geborgenheit“, schreibt der Hamburger Slawist Waldemar Klemm: „Hier jedoch, auf dem eigenen Rücken oder im Gepäck, als Spur der Vergangenheit getragen, etwas unverfälscht Eigenes, kann es auch eine Last sein, welche die Bewegung erschwert, ein für die in ihn hineingezwängten Gestalten zu enger Raum oder irgendetwas von dem Menschen Getrenntes, für ihn Unzugängliches. […] Charakteristisch sind schließlich die Darstellungen, in welchen die Silhouetten in Räumen, Käfigen gleich, platziert werden, endgültig und restlos, nicht ohne selbst dazu beigetragen zu haben, der Isolation im Haus als Gefängnis preisgegeben.“[15]
[11] Aus der Reihe „Es taumelt“, 1994, Feder, schwarze Tusche, 29 x 40 cm; Aus der Reihe „Es taumelt“, 1996, Acryl auf Leinwand, 60 x 70 cm (zwei Darstellungen mit demselben Titel, Vorder- und Rückseite); Aus der Reihe „Es taumelt“, 1994, Feder, schwarze Tusche, 29 x 40 cm; alle in: Janina Musiałczyk: Zeichnungen und Bilder, Hamburg/Łódź 1998, Nr. 1–3, 20.
[12] Zitiert nach Ernst-Eberhard Güse: Die Radierungen zu „Mein Leben“, in: Marc Chagall. Druckgraphik, herausgegeben von Ernst-Eberhard Güse, Stuttgart 1985, Seite16.
[13] Marc Chagall: Selbstporträt, 1922, aus der Folge „Mein Leben“, Blatt 17, Radierung und Kaltnadel, 27,5 x 21,5 cm (Kornfeld 17); vgl. Güse 1985 (siehe Anm. 12), Abb. 17, Seite 32. Vergleiche auch das Einzelblatt „Selbstbildnis mit Haus im Gesicht“, 1922/23, Radierung und Kaltnadel, 17,5 x 14,6 cm (Kornfeld 30), ebenda, Abb. 274, Seite 244.
[14] Marc Chagall: Mein Leben, Stuttgart 1959, Seite 6.
[15] Waldemar Klemm: „Die Kunst von Janina Musiałczyk ist figurativ …“, in: Zeichnungen und Bilder 1998 (siehe Anm. 11), nach Nr. 2.
Doch Musiałczyks Bildsujets künden nicht ausschließlich von „etwas Unheilvollem, vom Antagonismus, von einer Gegensätzlichkeit, die unüberbrückbar ist, vom bösen Ende“ (Klemm). In ihrer seit Mitte der Neunzigerjahre entstandenen Folge „Mieträume“, ausgeführt als Tuschezeichnungen und als Leinwandgemälde mit unterschiedlichen Techniken, dominieren versöhnlichere Pastelltöne, die diffuse Stimmungen erzeugen. In gitterartigen Strukturen, die an Hochhaussiedlungen erinnern, kommen Figuren, die statisch in unterschiedliche Richtungen blicken, zur Ruhe.[16] Gleichwohl finden sich die Menschen systematisch aufgereiht und eingesperrt in kastenartigen Verliesen. Es sind neue, mit Dächern versehene Behausungen, in die sie forsch hineinschreiten, aus denen ein Entrinnen jedoch unmöglich scheint (2002, Abb. 86 . ). In dunklen Momenten wirken diese „Mieträume“ (1998, Abb. 43 . ) als einsamer Mittelpunkt für einen strudelartigen Reigen des Lebens, der die ekstatische Freude am Dasein, die Henri Matisse zeigte,[17] in den Schrecken unaufhörlicher Vereinsamung verwandelt, wie ihn Edvard Munch in Gemälden und Grafiken thematisierte.[18]
Eher versöhnlich erscheint auch die Folge „Für den Jungen“ (1998–2000, Abb. 75–77 . ), in der die Künstlerin für einen abseits stehenden und vereinsamten Knaben, den sie in einem Fotoalbum entdeckte, ein Wohnhaus und eine schützende Familie erfand. In der späteren Serie „Geister und Häuser“ (2015, Abb. 64–66 . ) treten die eigenen Schrecken aus der Kindheit wieder hervor: „Abends vor dem Einschlafen“, erinnerte sich Musiałczyk an das Jahr 1948, „rücke ich die Möbel, verschiebe sie wie Holzklötzchen. Es genügt, die Kredenz in die Zimmermitte vorzuschieben und dort, dahinter habe ich meinen Raum.“[19] Auch ihre Angst vor Häusern und Innenräumen, in denen die Geister der Vergangenheit wohnen und die Schrecken der Gegenwart zuhause sind, erinnert an Bildthemen von Edvard Munch.[20]
Kunstschaffende des Surrealismus wie René Magritte, Paul Delvaux und Giorgio de Chirico kreierten aus kulissenartigen, verlassenen Gebäuden und Interieurs traumartige, angsterfüllte Zwischenwelten, in denen sich Tag und Nacht, Innen- und Außenwelt,[21] vergangene und gegenwärtige Zeiten[22] vermischen, in denen die Zeit stehen bleibt[23] oder erschreckende Erlebnisse aus der Kindheit heraufbeschworen werden.[24] In Musiałczyks Bildsujets erkannte die Hamburger Kunstjournalistin Evelyn Preuß eine von Gefühlstiefe durchglühte „Variante des polnischen Surrealismus“.[25] Der Kölner Kunsthistoriker Wolfgang Till Busse bemerkte eine „besondere poetisch-surreale Tonlage“, die ihren Ursprung in einem unterbewussten und von äußeren Einflüssen ungestörten Erleben habe, wenn „die Hand sich wie von selbst bewegt. Damit folgt sie einer von den Surrealisten in den 1920er Jahren entwickelten Technik, der Écriture automatique.“[26]
Eine obsessive Einstellung zu Innenräumen und Behausungen entwickelte der Schriftsteller Franz Kafka, der 1923 schwer krank aus der auf ihn einschüchternd und bedrohlich wirkenden Prager Wohnung der Eltern nach Berlin floh, um dort mit seiner neuen Lebensgefährtin Dora Diamant einen eigenen Hausstand zu gründen. Hin und her gerissen zwischen befreiender Idylle und finanzieller Bedrängnis musste er auch dort immer neue Unterkünfte suchen, bis er die letzte aufgrund seiner Erkrankung nicht mehr verlassen konnte. Schon zuvor hatte er in seinen Romanen und Novellen eine Mietwohnung in einer entlegenen nordamerikanischen Vorstadtstraße als ein von einer Prostituierten beherrschtes Gefängnis,[27] weit verzweigte Dachböden mit Advokatenzimmern und Verhörräumen als Grenzerfahrung der menschlichen Existenz und Vorstufe zur Exekution beschrieben.[28] Nicht zuletzt fand die Verwandlung des Gregor Samsa zu einem Ungeziefer im Zimmer von dessen elterlicher Wohnung statt.[29] Auch die Berliner Unterkünfte wurden für Kafka zu Schreckensräumen, aus deren erster eine missgünstige Vermieterin ihn und Dora hinausekelte[30] und deren letzte ihn an einen unterirdischen, labyrinthähnlichen Dachsbau erinnerte, in dem grabende Geräusche ihn in eine Paranoia versetzten.[31]
Musiałczyk fand Wege der Versöhnung. In einem ihrer Gedichte, die in den Jahren von 2001 bis 2014 nach Reisen zwischen Hamburg und Łódź entstanden, erkannte sie, dass der „schatten an der wand / um die tür / vielleicht immer / hier schon gewesen / hat zwei beine / und zwei arme“ in der Nacht verschwand und am Morgen wieder erschien. Die nur bei Tageslicht sichtbare Spukerscheinung war nichts weiter als ein Abbild ihrer selbst: „schatten an der wand / kopf ganz / zerzaust“.[32] In den gleichzeitigen und seither geschaffenen Gemälden der Serie „Stufen“ (2006–19, Abb. 79–83 . , 87 . ) zeigt sie Häuser, die, auf geometrische Grundformen reduziert, mit leuchtenden, geradezu glühenden Farben Sicherheit und Lebensfreude vermitteln. In einem 2015 geführten Interview anlässlich ihrer Ausstellung Szukając formy znajduję anegdotę (dt. Auf der Suche nach Form finde ich die Anekdote) in der Warschauer Galeria Nieformalna bekannte sie: „Die vier Wände sind wichtig – sicher und still. Da hinein drängt sich kein Lärm der Welt.“[33] Mit einem richtigen Zuhause, so sagte sie später, verbinde sie „Sicherheit. Unabhängigkeit. […] Man hat Raum für sich und Ruhe vor den Unruhen der Welt“. Die Suche nach diesem Ort, sei jedoch „oft eine Belastung und ein mühsamer Weg“.[34]
[16] Aus der Reihe „Mieträume“, 1995, Acryl, Stifte, Stempel auf Leinwand, 54 x 65 cm; Aus der Reihe „Mieträume“, 1995, Acryl, Stifte, Stempel auf Leinwand, 40 x 50 cm; Aus der Reihe „Mieträume“, 1997, Acryl, Collage auf Leinwand, 50 x 60 cm; Aus der Reihe „Mieträume“, 1997, Acryl, Collage auf Leinwand, 60 x 80 cm; alle in: Zeichnungen und Bilder 1998 (siehe Anm. 11), Nr. 11–14, 16.
[17] Henri Matisse: Tanz (I), 1909, Öl auf Leinwand, 259,7 x 390,1 cm, Museum of Modern Art, New York.
[18] Vergleiche unter anderem Edvard Munch: Der Tanz des Lebens, 1925, Öl auf Leinwand, 143 x 208 cm, Munch-museet, Oslo.
[19] Zeichnungen und Texte 2001 (siehe Anmerkung 1), Seite 8.
[20] Edvard Munch: Roter, wilder Wein, 1898–1900, Öl auf Leinwand, 119,5 x 121 cm, Munch-museet, Oslo; Abend auf Karl Johan, 1892, Öl auf Leinwand, 84,5 x 121 cm, Bergen Kunstmuseum; Der Sturm, 1893, Öl auf Leinwand, 92 x 131 cm, Museum of Modern Art, New York; Der Tod im Krankenzimmer, ca. 1893, Tempera und Farbstifte auf Leinwand, 152,5 x 169,5 cm, Nationalmuseum Oslo; Eifersucht, 1907, Öl auf Leinwand, 57,5 x 84,5 cm, Munch-museet, Oslo.
[21] René Magritte: Das Reich der Lichter (L'empire des lumières), 1954, Öl auf Leinwand, 146 x 114 cm, Musées royaux des Beaux-Arts de Belgique, Brüssel; Der Schlüssel der Felder (La Clef des champs), 1936, Öl auf Leinwand, 80 x 60 cm, Museo Nacional Thyssen-Bornemisza, Madrid.
[22] Paul Delvaux: Dämmerung über der Stadt (L’aube sur la ville), 1940, Öl auf Leinwand, 175 x 202 cm, Belfius Art Collection, Brüssel.
[23] René Magritte: Time Transfixed (La Durée poignardée), 1938, Öl auf Leinwand, The Art Institute of Chicago.
[24] Giorgio de Chirico: Geheimnis und Melancholie einer Straße (Mistero e malinconia di una strada), 1914, Öl auf Leinwand, 87 x 71,5 cm, Privatsammlung.
[25] Evelyn Preuß: Aus Wiesen schauen Gesichter. Janina Musiałczyks Bilder behandeln Seelenzustände, in: Hamburger Abendblatt vom 19.5.1988.
[26] Wolfgang Till Busse: Ungebeten. Agata Schubert-Hauck & Janina Musiałczyk, Eröffnungsrede in der Galerie Kunstraub99, Köln, am 14.1.2016.
[27] Franz Kafka: Amerika – Ein Asyl, 1911–14.
[28] Franz Kafka: Der Prozess, 1914/15.
[29] Franz Kafka: Die Verwandlung, 1912.
[30] Franz Kafka: Eine kleine Frau, 1923.
[31] Franz Kafka: Der Bau, 1923.
[32] schatten an der wand ..., 5. April 2006, in Janina Musiałczyk: w drodze_unterwegs (W DRODZE_trzy zeszyty – UNTERWEGS_drei hefte, Heft 2), Selbstverlag, Hamburg 2015.
[33] Porysować cały świat (dt. Die ganze Welt zeichnen), Janina Musiałczyk im Gespräch mit Stanisław Gieżyński, in: Weranda. Najpiekniejsze polskie domy, rezydencje, ogrody i sztuka, Nr. 11/155, November 2015, Seite 50.
[34] Gespräch anlässlich eines Besuchs der Modedesignerin und freien Redakteurin Larissa Wasserziehr. Vergleiche „Zu Besuch bei Künstlerin Janina Musialczyk“, 12. Mai 2019, auf https://derblauedistelfink.de/zu-besuch-bei-kuenstlerin-janina-musialczyk/ (zuletzt aufgerufen am 25.10.2023).
Bilder der Ergriffenheit von Ereignissen, Erinnerungen und Träumen
Musiałczyk bildete ihren Mal- und Zeichenstil in einer Zeit aus, in der sich neue Formen der figurativen Kunst und des Realismus in den USA und in Europa in zahlreichen unterschiedlichen Ausprägungen etablierten. Ab Mitte der 1950er, spätestens Anfang der 1960er Jahre begannen Kunstschaffende, angeregt vor allem von Jean Dubuffet, als Gegenreaktion zum Abstrakten Expressionismus und zum Informel narrative figürliche Formen zu entwickeln. In der Folge einer Ausstellung mit dem Titel New Images of Man 1959 im Museum of Modern Art in New York, in der unter anderem Werke von Francis Bacon, Dubuffet, Alberto Giacometti, Leon Golub, Willem de Kooning, Nathan Oliveira und Germaine Richier zu sehen waren,[35] bezeichneten das im selben Jahr erschienene Buch „Neue Figuration“ des deutschen Malers und Kunstschriftstellers Hans Platschek und der 1961 von dem französischen Schriftsteller und Kunstkritiker Michel Ragon geprägte Begriff „Nouvelle figuration“ eine figürliche Kunst, die sich mit existenziellen Zuständen des Menschen, subjektiven Ängsten, gesellschaftlicher Vereinzelung, Grausamkeiten, Pessimismus und Katastrophen beschäftigte und die nicht zuletzt mit den sozialen und politischen Turbulenzen des Kalten Krieges in Verbindung gebracht wurde.
Formale Vereinfachung und Deformation der Figur, krampfhafte und ausladende Gestik, ihre Konfrontation mit Symbolen, düstere Farbwahl oder starke Farbkontraste waren prägende Stilmittel. Die Bildsujets schwankten zwischen Illusion und Realität, griffen zurück auf Munch, den Surrealismus und in engem Zusammenhang mit Dubuffet auf Kinderzeichnungen und Art brut. In der Folge entwickelten sich in den USA Pop Art und Fotorealismus, in Belgien, den Niederlanden und Dänemark mit der Gruppe COBRA eine farbig-expressive Richtung, in Westdeutschland mit der Gruppe Zebra ein Neuer oder Kritischer Realismus sowie der auf dem Surrealismus aufbauende Phantastische Realismus mit nationalen Ausprägungen in Österreich und Westdeutschland.
In Polen erfuhr der Konstruktivismus der 1920er Jahre nach dem Krieg eine Neuauflage und entwickelte eine starke, über Jahrzehnte anhaltende nationale Tradition. Der 1949 staatlich angeordnete Sozialistische Realismus wurde von dem Dramaturgen und Maler Tadeusz Kantor und von dem zunächst konstruktivistisch und seit 1928 in flächiger Abstraktion malenden Władysław Strzemiński bekämpft und 1955 offiziell wieder abgeschafft. Reisen ins westliche Europa und in die USA ermöglichten den polnischen Kunstschaffenden Verbindungen zur internationalen Avantgarde, wodurch auch in Polen die Neue Figuration als „Nowa figuracja“ Fuß fassen konnte. Kantor zeichnete einfache Menschen von der Straße in bedrängten Situationen.[36] Władysław Hasior gestaltete aus verschiedenen Materialien ein „Gruppenporträt“ in den Umrissen einer riesigen schwarzen Vogelscheuche.[37] Janusz Przybylski malte, beeinflusst von Bacon und Ronald B. Kitaj, in gesellschaftlichen Rollen und existenziellen Nöten gefangene Figuren.[38] Antoni Fałat zeigte seit seiner Teilnahme 1970 an der Ausstellung Polska figuracja, polski styl, polska egzotyka in der Warschauer Galeria MDM bildfüllende, schwarz-dominierte Einzel- und Gruppenporträts in theatralisch verfremdeten Situationen.[39]
[35] Peter Selz: New Images of Man, Ausstellungskatalog The Museum of Modern Art, New York 1959.
[36] Tadeusz Kantor: Człowiek zawieszony (dt. Aufgehängter Mann), 1960; Dzieci w wózku na śmieci (dt. Kinder in einem Abfallkarren), 1961; Chłopiec z gazetami (dt. Zeitungsjunge), Serie, 1968; alle Kunstmuseum Łódź/Muzeum Sztuki w Łodzi.
[37] Władysław Hasior: Portret zbiorowy (dt. Gruppenporträt), 1960er Jahre, Assemblage, 135 x 200 cm, Kunstmuseum Łódź/Muzeum Sztuki w Łodzi.
[38] Janusz Przybylski: Przy zamkniętych drzwiach (dt. Bei verschlossener Tür), 1971, Öl auf Leinwand, 190 x 110 cm (Teil eines Triptychons), Nationalmuseum Breslau/Muzeum Narodowego we Wrocławiu.
[39] Antoni Fałat: Cyklista (dt. Radfahrer), 1975, Acryl auf Leinwand, 110 x 90 cm, Nationalmuseum Warschau/Muzeum Narodowe w Warszawie.
Musiałczyks Lehrer an der Kunsthochschule in Łódź, Stanisław Fijałkowski, einer der profiliertesten Vertreter der polnischen Malerei des 20. Jahrhunderts, knapp 50 Jahre Dozent, Dekan und Professor an der Hochschule in Łódź und Gastprofessor in Mons, Gießen und Marburg, war Schüler von Strzemiński. Nach anfänglicher Orientierung am Kubismus und unter dem Einfluss der Schriften von Wassily Kandinsky entwickelte er in den 1960er Jahren einen flächigen abstrakten Stil, dessen fest umrissene Formen auch als abstrahierte Gegenstände in einer poetischen, transzendenten Realität wahrgenommen werden konnten.[40]
Während Fijałkowski sich außerdem für den Surrealismus interessierte, schrieb Musiałczyk bei ihm 1967 ihre Diplomarbeit über einen Nebenaspekt des Art brut, die „Eigenart der Malerei der Naiven“. Während Dubuffet Art brut als Kunst von Außenseitern verstand, hatte sich die Naive Kunst als Malerei und Bildschnitzerei von Laien auf hohem Niveau in Polen seit Mitte der Sechzigerjahre und später auch europaweit in Ausstellungen als anerkannte Kunstrichtung etabliert. „Bezeichnend für die Naiven“, schrieb Musiałczyk, sei „die Gegenwart einer eigentümlichen und selbstzeugenden Poesie, einer originellen und innigen, welche die emotionale Verbindung zwischen der Außenwelt und der Welt innerer Ergriffenheiten und Erlebnisse ist. In ihren Bildern gibt es eine Intensität der Emotionen, die sich dem Betrachter umso mehr mitteilt, als sie keiner fremdbestimmten Ästhetik unterliegt, ohne Kulturverweise auskommt, wobei ihre Symbolik elementar und lesbar ist. […] Die Kunst der Naiven verblüfft durch das Fehlen von Formeln und Regeln, sie ist eine ungezähmte Kunst, deren einziger Ansporn das tiefe Bedürfnis ist, auf welche Art und Weise auch immer ein Bild der Ergriffenheiten, Ereignisse, Erinnerungen und Träume zu schaffen.“[41]
Diesen „Ansporn“ hat Musiałczyk sich auch als Motto für ihre eigene Kunst gewählt. Anders als ihr Lehrer beschritt sie in ihrer freien Arbeit einen figürlichen Weg, so dass man sie im weitesten Sinn der Neuen Figuration zurechnen würde. Sie stellte die menschliche Figur sowie eindeutig bestimmbare Gegenstände wie Häuser, Wagen und landschaftliche Elemente ins Zentrum ihrer Bilder. Mit ihrer Konzentration auf seelische und existenzielle Zustände des Menschen, der Abstraktion der Gegenstände, der Vereinfachung der Figuren und deren außergewöhnlicher Gestik ähneln ihre Arbeiten am ehesten der Nowa Figuracja, die sich in Polen in den Sechzigerjahren nicht nur durch die genannten Künstler, sondern auch durch die qualitätvolle und außergewöhnlich präsente polnische Plakatkunst etabliert hatte.
Im Jahr ihres Studienabschlusses wurde sie Mitglied im Verband der polnischen Kunstschaffenden (Związek Polskich Artystów Plastyków, ZPAP) und beteiligte sich seitdem an dessen Ausstellungen. Ebenfalls seit 1967 widmete sie sich als Leiterin der Ateliergruppe für bildende Kunst im Palast der Jugend (Pałac Młodzieży) in Łódź der künstlerischen Ausbildung von Kindern und Jugendlichen. Während der 14 Jahre ihrer kunstpädagogischen Tätigkeit bis zu ihrer Ausreise nach Deutschland unterrichtete sie später bedeutende Kulturschaffende, darunter Marek Pabich, heute Direktor des Instituts für Architektur und Stadtplanung (Instytut Architektury i Urbanistyki) der Technischen Universität Łódź (Politechnika Łódzka), der Maler Dariusz Fiet, ebenfalls ein Schüler von Fijałkowski, die zuletzt in Nierstein bei Mainz arbeitende Buchgestalterin Iga Bielejec, die in Łódź ansässige Grafikdesignerin Małgorzata Misiowiec, der Maler, Objektkünstler und Fotograf Tymoteusz Lekler sowie der Restaurator Krzysztof Nast, zuletzt tätig am Museum Schloss Moyland in Bedburg-Hau.[42]
Der Maler Wojciech Leder, zuletzt Leiter eines Malateliers und Professor an der Akademie der Schönen Künste Władysław Strzemiński in Łódź (Akademia Sztuk Pięknych im. Władysława Strzemińskiego w Łodzi), auch er Schüler von Fijałkowski, erinnerte sich 1998 anlässlich einer Hamburger Ausstellung von Musiałczyk: „Ich habe das Glück, ein Schüler von Janina Musiałczyk zu sein. Sie hat mich angeleitet, als ich in einem Alter war, in dem man besonders empfänglich ist für die Welt der Illusionen. Denn besteht nicht die erste Berührung mit Kunst in dem aufmerksamen Lernen, die Erscheinungsweise der Natur nachzubilden?“[43]
Der Maler, Performer, Gestalter von Animationsfilmen und Professor an der Filmschule Łódź (Szkoła Filmowa w Łodzi), Mariusz Wilczyński, ebenfalls Diplomant bei Fijałkowski, resümierte: „Meine ganze Energie bündelte sich im Pałac Młodzieży, dort traf ich Darek Fiet, den späteren herausragenden Künstler […] oder Marek Pabich, heute ein renommierter Architekturprofessor. […] Janina Musiałczyk entfachte in uns das Gefühl, etwas Besonderes zu sein, wir fühlten uns wie Cézanne, Matisse oder Renoir […]. Wir spürten damals einen großen Drang, große Leidenschaft. Das ist das gewaltige Verdienst von Janina Musiałczyk, unserer Lehrerin für Malerei und Zeichnung im Pałac Młodzieży.“[44]
[40] Stanisław Fijałkowski: 04.08.66, 1966, Öl auf Leinwand, 30 x 23 cm; 22 I 68–69, 1968, Öl auf Leinwand, 72 x 59,5 cm; beide Nationalmuseum Warschau/Muzeum Narodowe w Warszawie.
[41] Janina Musiałczyk: Specyfika malarstwa naiwnych (dt. Die Eigenart der Malerei der Naiven), Diplomarbeit, Akademia Sztuk Pięknych im. Władysława Strzemińskiego, Łódź 1967, Seite 6 f. (Übersetzung aus dem Polnischen: F.L./Z.M.).
[42] Vergleiche hierzu die Erinnerungen zu Musiałczyks kunstdidaktischer Arbeit von Nast, Misiowiec, Pabich und Piotr eL. (Częstochowa) unten im Anhang zu diesem Text.
[43] Wojciech Leder: Unveröffentlichter Essay anlässlich der Ausstellung Janina Musiałczyk. Federstriche von Heute, Farbschichten für Gestern, Künstlerhaus Hamburg-Bergedorf, 10.2.1998.
[44] Jerzy Armata: Z Armatą na Wilka. Animowany blues Mariusza Wilczyńskiego, Warschau 2011, Seite 33 f.
Neben dem Entwurf von Seidentüchern und dem Weben von Gobelins verdiente Musiałczyk ihr Geld auch mit dem Illustrieren und der Titelgestaltung von Büchern. Zwischen 1967 und 1980 arbeitete sie für den Almqvist Wiksell Förlag in Stockholm und den in Łódź ansässigen Verlag Wydawnictwo Łódzkie. Ihre Arbeit umfasste einzelne abstrakte oder gegenständliche Umschläge und Vignetten,[45] aber auch die Gestaltung eines ganzen Kinderbuchs wie der Gedichte und Fabeln von Jan Huszcza mit farbigen, expressiv abstrahierten Figuren, Landschaften und Stillleben.[46] Einen schwarzweißen Buchtitel mit phantasievollen, zwischen Blüten und Insekten changierenden Formen entwarf sie für einen Gedichtband von Andrzej Biskupski,[47] geometrisch abstrahierte maritime Szenen und Landschaften für ein zwischen Warschau und Masuren spielendes Jugendbuch von Adam Gruda.[48]
Auch in ihrer freien künstlerischen Arbeit trat sie früh an die Öffentlichkeit. 1969 gründete sie zusammen mit anderen in Bałuty, dem nördlichen der ehemals fünf Verwaltungsbezirke von Łódź, die Künstlergruppe und Produzentengalerie Grupa Plastyków Bałuckich, der sie bis 1973 angehörte und mit der sie Ölgemälde, großformatige Arbeiten und Installationen im öffentlichen Raum zeigte. 1971 wurde sie vom Polnischen Künstlerverband ZPAP ausgezeichnet.
Die stärkste Verbindung zu ihren späteren Arbeiten hat die zwischen 1974 und 1980 entstandene Bildreihe „Die Erde“. Die Zeichnungen mit Bleistift, Buntstiften und schwarzer Tusche auf Papier ausgeführt, zeigen mit dem Erdreich und der Landschaft eng verbundene Frauenkörper, die von Vögeln mit langen Schnäbeln und wild ausgebreiteten Flügeln attackiert werden (Abb. 25–26 . ). Als Vorbilder dienten offenbar die eng mit Mutter Erde und der Natur verbundenen Frauengestalten der symbolistischen Kunst,[49] welche von Nachtmahren und Katastrophen gequält werden wie bei Jacek Malczewski,[50] die Tieren schutzlos ausgeliefert sind wie bei Paul Gauguin[51] oder nach denen Hände greifen wie bei Munch.[52] Gleichzeitig haben Musiałczyks grafisch über die ganze Bildfläche ausgebreitete Vogelschwingen die Kraft der zeitgenössischen aus dem Unterbewusstsein gesteuerten Malerei des Tachismus. „In meinen Bildern schlägt sich viel von dem nieder, was ich empfinde und denke“, wird die Künstlerin ein Jahrzehnt später zitiert. Es seien, so die Rezension zu einer Ausstellung, vor allem resignative, depressive Stimmungen und Gedanken: „die Frau, die Erde, der Baum, der Wind, die Trauer, der Schmerz, die Einsamkeit, die Kraftlosigkeit“.[53]
Für ihre Arbeit im Palast der Jugend erhielt sie 1973 „für außerordentliche und innovative Leistungen im Bereich pädagogischer und sozialer Arbeit“ den Sonderpreis der Aufsichtsbehörde des Schulbezirks Łódź, 1978 „für herausragende Leistungen im Bereich didaktischer und erzieherischer Arbeit“ den Preis des polnischen Ministeriums für Bildung und Erziehung (Ministerstwo Oświaty i Wychowania). 1979, zwei Jahre vor ihrer Ausreise, zeichnete sie das Ministerium für ihre „künstlerische Qualität sowie herausragende Leistungen im Bereich der Kunsterziehung von Kindern und Jugendlichen“ mit einem Ehrendiplom aus.[54]
[45] Helena Duninówna: Ludzie i rzeczy (dt. Menschen und Dinge), Łódź 1968; Tadeusz Chróścielewski: Szkarłatna godzina (dt. Die scharlachrote Stunde), Łódź 1968.
[46] Jan Huszcza: Wierszyki i bajeczki (dt. Kurze Gedichte und Märchen), Łódź 1969.
[47] Andrzej Biskupski: Mój głos zewnętrzny (dt. Meine äußere Stimme), Łódź 1970.
[48] Adam Gruda: North znaczy północ (dt. North heißt Norden), Łódź 1972.
[49] Max Klinger: Frühlingsanfang. Opus I: Radierte Skizzen, 1879, Radierung, Aquatinta, 41,5 x 16,8 cm.
[50] Jacek Malczewski: W tumanie (dt. In der Staubwolke), 1893/94, Öl auf Leinwand, 78 x 150 cm, Nationalmuseum Posen/Muzeum Narodowe w Poznanie.
[51] Paul Gauguin: Der Verlust der Jungfräulichkeit, 1890–91, Öl auf Leinwand, 90 x 130 cm, Chrysler Museum, Norfolk.
[52] Edvard Munch: Die Hände, 1893, Öl auf Leinwand, 91 x 77 cm, Munch-museet, Oslo.
[53] Hamburger Abendblatt vom 13. März 1986, S. 11 (anlässlich der Ausstellung Janina Musiałczyk. Aquarelle und Zeichnungen, Hamburger Sparkasse, 1986).
[54] Polak w świecie. Leksykon Polonii i Polaków za granicą (dt. Der Pole in der Welt. Lexikon der Polonia und Polen im Ausland), herausgegeben von Polska Agencja Informacyjna, Warschau 2001, Seite 205 f., 403.
Ein Stück jener anderen Welt
Mit der Ausreise aus Polen rückten Themen des Fortgangs, des Exodus, der zurückgelassenen und der vorüberziehenden Landschaften in den Mittelpunkt von Musiałczyks künstlerischem Schaffen und bestimmten es für die folgenden Jahrzehnte. Es erwies sich von Vorteil, dass sie zuvor schon in kleinem Format auf Papier gearbeitet hatte und nun in vorübergehenden und behelfsmäßigen Quartieren mit Serien von Zeichnungen weiterarbeiten konnte. An eigenen Werken hatte die Künstlerin nur weniges auf die Reise mitnehmen können. In einem der Zimmer in Malmö hing der vom Mieter der Wohnung erworbene und von ihr „gewebte Gobelin, ein Stück jener anderen Welt.“[55]
Unter dem Titel „’81 “ entstand im Jahr der Ankunft in Hamburg eine Folge von zurückgelassenen, sturmzerzausten Landschaften, die die Betrachtenden als Gesichter anschauen (Abb. 74 . ), ihnen als weibliche Körper gegenübertreten oder in denen sich Abgründe auftun.[56] Sie sind verwandt mit den „schauenden Steinen“, die die Künstlerin in ihrer ersten Wohnung in Hamburg-Steilshoop zu zeichnen begann und die zwei Jahre später immer mehr Wände bedeckten. Die Blätter zeigen Steine oder Findlinge mit unbewegten, geradeaus blickenden oder schräg gestellten Gesichtern, einsame, steinverwandte Wesen in freier, karger Landschaft, abgestürzt in Schluchten, als weibliche Körper aus dem Boden gewachsen oder in kastenartige Räume gesperrt, die einen in Trauer verharrenden, versteinerten Gemütszustand widerspiegeln.
Bis 1990 schuf die Künstlerin unter den Titeln „Geteilte Landschaft, gestaltete Landschaft“, „Hier und dort“ und „Menschen, Grenzen, Landschaften“ zahlreiche weitere gezeichnete Folgen in wechselnden Techniken, in denen sich landschaftliche Elemente und menschliche Figuren symbiotisch miteinander verbinden. Während die Titel auf den migrantischen Konflikt der Zugehörigkeit zu zwei verschiedenen Ländern und Kulturen verweisen, stehen sich in den Bildmotiven verschiedene Stadien der Verwurzelung in der Landschaft auf der einen Seite und des Ausgestoßenseins, der Entwurzelung und der Entfremdung auf der anderen Seite gegenüber.
Es sind vor allem weibliche Wesen, die als Engel mit gebrochenen Flügeln über der „geteilten Landschaft“ schweben (Abb. 4 . ) oder mit Blut verströmenden Beinen zwischen „Hier und dort“ (beide 1983, Abb. 15 . ) stehen. Sie verwandeln sich zu versteinerten Formationen der Landschaft, tief unter Ackerfurchen, zerzausten Bäumen, Dorflandschaften und Friedhöfen in der Erde eingegraben (1984, Abb. 9 . , 12–14 . ). Oder sie haben sich gegen die Gefahren des Lebens wie der Protagonist in Kafkas Novelle „Der Bau“ als meist schlafende „Wesen der inneren Erde“ [57] in Höhlen verschanzt und embryonal zusammengerollt (1986, Abb. 11 . ). Frausein ist eines der zentralen Themen in Musiałczyks Bildwelt.
Erdfarbene, versteinerte Gesichter mit geknebeltem Mund und verbundenen Augen erinnern an das Redeverbot während der Diktatur (1984, Abb. 2 . , 3 . ) und sind für alle Zeiten der Landschaft mit ihren Schluchten und Bäumen eingeschrieben (1984, Abb. 24 . ). Sie fallen als schreiende Kometen vom Himmel (1985, Abb. 55 . ), taumeln als „schauende Steine“ durch den Raum (Abb. 7 . ), bilden zusammen mit ihren Körpern schwere Felsformationen und verbergen sich in verkrümmter Gestalt in felsigem Sediment (alle 1986, Abb. 10 . , 16 . ). Schließlich werden sie, in tiefen Schluchten verborgen, selbst von herabfallendem Fels bedroht (1987, Abb. 73 . ).
[55] Zeichnungen und Texte 2001 (siehe Anmerkung 1), Seite 22.
[56] Weitere Beispiele zu den hier genannten Folgen finden sich auf der Webseite der Künstlerin, https://www.janinainkamusialczyk.de (zuletzt aufgerufen am 25.10.2023), unter dem Menü „Zeichnungen“.
[57] Franz Kafka: Der Bau (1923), in: Franz Kafka: Das Werk. Romane und Erzählungen, Frankfurt am Main 2010, Seite 941.
Orientierungslos stehen Menschen zwischen „Grenzen“ und „Landschaften“. Sie blicken um sich und verlieren ihr Gesicht (1988, Abb. 22 . ), treten zweifelnd vor erdiger Kulisse aus sich heraus (Abb. 70 . ) oder verharren einsam eingezwängt zwischen riesigen Felsen (Abb. 71 . ). Als getrenntes Liebespaar, beide mit ihrem Teil einer übermächtigen, nächtlich verlassenen Stadtlandschaft verbunden, können sie nicht mehr zueinanderfinden (alle 1988/89, Abb. 72 . ). „Ich lege meinen kopf / in das herz hinein / sehe alles“, schreibt Musiałczyk später, „ich sehe / ich sehe und sehe / […] sehe und weine / … / ich laufe weiter / schmale wege / fremde orte“.[58] Ihre Landschaften, jenseits von Grenzen, gestaltet und geteilt in „hier und dort“, sind Orte klaren Sehens und heller Erkenntnis, in denen die Künstlerin dennoch unentrinnbar tief verwurzelt und eingegraben ist.
Seelenzustände in Elementen der Landschaft zu verschlüsseln, hat in der polnischen Malerei eine lange Tradition. In der Kunst des Jungen Polen (Młoda Polska), einer heterogenen künstlerischen Bewegung in den Jahren um 1900, die auf europäischer Ebene am ehesten mit dem Symbolismus vergleichbar ist,[59] spürten die bedeutendsten polnischen Kunstschaffenden in „symbolischen Landschaften, in denen jedem einzelnen Element eine Bedeutung zukam“,[60] ihren eigenen psychischen Stimmungen nach. Bei Jan Stanisławski beispielsweise symbolisierten Wasser und Wolken die Vergänglichkeit, vom Wind bewegte Pappeln die Kräfte der Natur,[61] das Erdreich die Beständigkeit. Ferdynand Ruszczyc veranschaulichte in seinem Gemälde „Die Erde“[62] „die uralte Macht und Unbezwinglichkeit der Natur, die den Menschen in die Schranken weist“.[63] Ein Kritiker erkannte in dem Bild „die Seele des Künstlers“, die „in einer starken, geruhsamen Stimmung der Seele der Natur Ausdruck verlieh“.[64] Wojciech Weiss, der sich für Munch und dessen Freund, den Schriftsteller Stanisław Przybyszewski, begeisterte, symbolisierte mit der ersterbenden Natur des Herbstes Vergänglichkeit und Tod, um nur einige Beispiele zu nennen.
Die meisten der Landschaften des Jungen Polen sind menschenleer, im Unterschied zu denen des europäischen Symbolismus, etwa von Hodler, Böcklin, Kupka, Puvis de Chavannes, Segantini, Klinger und Munch, in denen die menschliche Figur weitere Bedeutungsebenen eröffnet. Fijałkowski wiederum entwickelte sechs Jahrzehnte später aus der Abstraktion heraus leere Landschaften, die den Betrachtenden die Projektion eigener Phantasien und Gemütszustände ermöglichen. Vor diesem weit gespannten Hintergrund erschuf Musiałczyk mit Mitteln der figürlichen Abstraktion ein Zwischenreich, in dem die Landschaft der menschlichen Gestalt einen dramatischen, aber vorübergehenden Zustand der Seele gewährt.
[58] ich lege meinen kopf …, geschrieben im September 2002, in: w drodze_unterwegs 2015 (siehe Anmerkung 32).
[59] Vergleiche auf diesem Portal Axel Feuß: Waren sie wirklich „Rebellen“? Zur Münchner Ausstellung „Stille Rebellen. Polnischer Symbolismus um 1900“, https://www.porta-polonica.de/de/atlas-der-erinnerungsorte/waren-sie-wirklich-rebellen-zur-muenchner-ausstellung-stille-rebellen.
[60] Urszula Kozakowska-Zaucha: Landschaften der Trauer und der Hoffnung. Naturdarstellungen in der Malerei des Jungen Polen, in: Stille Rebellen. Polnischer Symbolismus um 1900, Ausstellungskatalog Kunsthalle München, München 2022, Seite 81.
[61] Jan Stanisławski: Topole nad wodą (dt. Pappeln am Wasser), 1900, Öl auf Leinwand, 145,5 x 80,5 cm, Nationalmuseum Krakau/Muzeum Narodowe w Krakowie.
[62] Ferdynand Ruszczyc: Ziemia (dt. Die Erde), 1898, Öl auf Leinwand 171x219 cm, Nationalmuseum Warschau/Muzeum Narodowe w Warszawie.
[63] Kozakowska-Zaucha 2022 (siehe Anm. 60), Seite 79.
[64] Ebenda, Seite 79 f.
Der Traum vom verlorenen Koffer
Die Gründung einer freien Kunstschule im Jahr 1985 noch vor ihrer endgültigen Ansiedlung in Hamburg-Volksdorf ermöglichte der Künstlerin die Aussicht auf Erfüllung und ein neues Lebensziel. Sie baute seitdem nicht nur für Kinder und Jugendliche „eine Brücke zur Kunst“, sondern auch für Erwachsene, von denen einige ihren Unterricht in Zeichnung, Malerei und Komposition bis zu zwei Jahrzehnte lang besuchten und andere dort ihre künstlerische Laufbahn begannen oder ergänzen konnten.[65] „Gute Sachen entstehen nur“, so habe sie ihnen beigebracht, „wenn man Fehler macht, ausprobiert, über Grenzen geht und wagemutig ist. […] Das Auge muss das genaue Sehen lernen. Je mehr man entdeckt und aufspürt, desto interessanter wird die Welt.“[66]
Seit 1993 beschäftigte sie sich mit menschlichen Figuren, die sich nun nicht mehr psychisch erstarrt und eingezwängt zwischen Erdmassen und Felswänden befanden, sondern die unterwegs waren. Die getrennt oder zusammen losgingen und ankamen, auf ihren Wegen anderen begegneten, unsicher schwankten und taumelten zwischen hier und dort, die gemietete Räume bezogen und schließlich in vielfältigen Situationen lernen mussten, sich zu behaupten und miteinander zu kommunizieren.
Mit abstrahierten Umrissfiguren, die sich mit ihrer Vereinfachung, gelängten Proportionen und steifen Bewegungen der Karikatur nähern, schildert die Künstlerin in der Folge „Kommen, werden, gehen“ (1993, Abb. 32-39 . , 42 . ) das Drama der Migration. Menschen wandern allein, zu zweit, als Familien oder als Gruppen fest aneinandergebunden und mit anderen Personen im Schlepptau, mit Häusern und Städten im aufgeschulterten Gepäck als Last ihrer Erinnerungen, hinter sich Wagen mit Häusern und Kranken herziehend, auf verschlungenen Wegen durch leere Landschaften. Irgendwo angekommen, verschlingen sie Müdigkeit und Depression in schwarzer Nacht, während andere – man denke an Munchs „Tanz des Lebens“[67], der an einem Strand vor untergehender Sonne stattfindet – im Hintergrund auf offener Bühne tanzen (1998, Abb. 58 . ). Auch Klingers sinnende „Penelope“,[68] die vor einem Bild des Paradieses während der Irrfahrt ihres Gatten Odysseus Nacht für Nacht sein Totentuch webt, könnte als Vorbild gedient haben.
Unterwegs begegnen sich Menschen, die sich in dynamischer und emotionaler Konfrontation gegenüberstehen und sich seelisch und körperlich ineinander verstricken. Die gleichnamige Serie, „Begegnungen unterwegs“, aus schwarzweißen und farbigen Zeichnungen entstand in drei Folgen mit zeitlichen Abstand 1995/96, 1998 bis 2000 und 2011 bis 2013. Da sind Paare aus Männern und Frauen mit den untergeschnallten Rädern ihrer Flucht in stummer Konfrontation: mit der Bürde aus den Häusern und Städten ihrer Erinnerungen (Abb. 1 . ), nackt und über Kopf, durch Häuser getrennt (Abb. 60 . ), gegenüber und doch separiert durch das Haus, das sie auf ihrer Wanderung mitgenommen haben (alle 1995, Abb. 69). Sie jonglieren mit ihren Rädern, als wollten sie abwägen, was sie von ihrer eigenen Wanderung zu halten haben (beide 1996, Abb. 67 . , 68 . ).
Liebespaare, durch ein dünnes Band verbunden, sitzen Rücken an Rücken (Abb. 23 . ), prüfen sich verschlungen Auge in Auge (Abb. 52 . ) oder suchen jede für sich nach dem richtigen Weg (alle 1998, Abb. 53 . ). Der „Tanz des Lebens“ wird bei Musiałczyk zur Feier des Leiblichen, die alle Menschen in Liebe und fortlaufendem Wachsen, aber auch in Schmerz, Beklemmung und Zerfall verbindet (1999/2000, Abb. 18–20 . ). Aus ihr geht die Frau, ohnehin die zentrale Figur in Musiałczyks Lebensdrama, siegreich hervor als Judith mit dem Haupt des Holofernes, also als Überwinderin des Bösen, oder als Salome mit dem Haupt von Johannes dem Täufer, also als Verkörperung weiblicher Grausamkeit (alle 2000, Abb. 62 . ). Liebe und Glück scheinen zu bäuerlicher Rohheit reduziert (2011, Abb. 50 . ), von schwerer Erinnerungslast geplagt (2012, Abb. 51 . ) und zu unendlicher Einsamkeit erstarrt, in der jede und jeder in den eigenen Träumen verharrt (2013, Abb. 21 . ).
[65] Vergleiche hierzu die Erinnerungen an Musiałczyks Unterricht in der Freien Kunstschule in Hamburg von Burmeister, Saborowski und Storjohann unten im Anhang zu diesem Text.
[66] „Zu Besuch bei Künstlerin Janina Musialczyk“ 2019, siehe Anmerkung 34.
[67] Siehe Anm. 18.
[68] Max Klinger: Das Leuckart-Diplom (Penelope), 1895, Radierung, Stich und Aquatinta, 18,9 x 30 cm.
Weitere Serien der Neunziger- und Zweitausenderjahre thematisieren das Schwanken zwischen verschiedenen Seelenzuständen wie in der Folge „Es taumelt“, zwischen Bleiben und Gehen in Zeiten von Krieg, Zerstörung und Verfall (Abb. 40 . , 41 . ), zwischen Zeiten, in denen man den Boden unter der Füßen verliert (alle 1995, Abb. 54 . , 59 . ), einem letzten Aufschrei (1996, Abb. 44 . ) und Situationen, in denen man sich in widersprüchlichen Gefühlen verfängt (2000/01, Abb. 31 . , 30 . ). Die Folgen „Von hier bis dort“ (1996, Abb. 56 . , 57 . ), „Unterwegs“ (1996-98, Abb. 5 . , 6 . , 63 . ), „Auf Reisen“ (2000, Abb. 61 . ) und „Zusammen“ (2000, Abb. 27–29 . ) zeigen die Wanderer allein, in Gruppen und als Paare, eingezwängt, verschlungen oder in gegenseitigem Kampf. Sie fliehen während ihres „Fortgangs“ im „Ornament der Masse“ (Siegfried Kracauer) oder in ewig suchendem Hindernislauf (2000, Abb. 17 . , 45–49 . , 85 . ).
Musiałczyk überträgt in ihren seit 1981 entstandenen Serien eigenes Erleben in gezeichnete und gemalte Parabeln, die durch die stilistischen Mittel der Neuen Figuration, aber auch durch Rückbezüge zu Literatur, Mythologie und Kunstgeschichte Allgemeingültigkeit erlangen. Hohe kompositorische, zeichnerische und koloristische Qualität bewirken ein erzählerisches Niveau, das die Lesbarkeit der Bildszenen jenseits ihrer biografischen Verflechtungen ermöglicht – etwa wenn die Künstlerin die Bewegung der Figuren durch das Papierformat begrenzt (Abb. 53 . ), durch chaotische Strichlagen Dramatik erzeugt (Abb. 40 . ) oder durch eine besondere Art des Sfumato Beziehungen der Figuren untereinander oder zur Außenwelt charakterisiert (Abb. 28 . , 70 . ).
Wojciech Leder bezog sich 1998 in seinem Essay auf diese allgemeingültige Ebene: „Die Arbeiten meiner Lehrerin zeugen von einer ungewöhnlich subjektiven Wahrheit, die jedoch vielen Menschen gemeinsam ist. […] Diese Bilder sind ein einsamer Umgang mit […] der Zeit, die von der Sehnsucht nach vergangenen Orten, vergangenen Menschen […] geprägt ist. […] Der Intimitäts- und Aufrichtigkeitswert sickert von Empfindsamkeit zu Empfindsamkeit – beinah ein zärtliches Flüstern.“[69] Der seit 1983 in Hamburg ansässige polnische Schriftsteller und Essayist Janusz Rudnicki fühlte sich an eigene Erfahrungen erinnert: „An deinen Arbeiten hat mich aber etwas innehalten lassen. Bahnhof Mitte der sechziger Jahre, ich zehn Jahre alt, nach fünfzehn Uhr, Tag für Tag. Ich warte auf den Zug, auf Mutter, wie jeden Tag, sie kam damit von der Arbeit. Aus dem Zug ergießt sich ein Strom geklonter, grauer und gebückter Menschen. Als träten sie soeben aus einer Höhle hervor. Aus der Höhle nach Hause, ihr täglicher Marsch. Nicht auf etwas zu, sondern im Kreis. […] Es quälte mich: woher kenne ich diese menschenartigen Gestalten. […] Weißt Du, was es ist? Chromosomen. […] Zyklische Wandlungen, lange Ketten, fühlst du dich da nicht zu Hause?“[70]
Eine Affinität der Künstlerin besteht zur polnischen Plakatkunst, die seit den 1950er Jahren auch in der Bundesrepublik Deutschland in Ausstellungen und Publikationen präsent war und seitdem in öffentlichen und privaten Sammlungen vertreten ist.[71] Bei Film-, aber auch bei Theater-, Opern- und Ausstellungsplakaten hatten polnische Kunstschaffende in der frühen Nachkriegszeit eine neue Ästhetik entwickelt, wobei die Themen anders als bei Hollywood-Plakaten nicht direkt ins Bild übertragen, sondern in abstrakten oder expressiven Zeichen und Figuren verschlüsselt wurden.[72] Während in den Sechzigerjahren und zu Anfang der Siebzigerjahre farbige Entwürfe mit puppenartigen Motiven vorherrschten, wurde die Bildwelt zum Ende der Siebzigerjahre und in den Achtziger- und Neunzigerjahren düsterer. Jetzt herrschten unbewegliche Gesichter und zerstörte Physiognomien vor. In Kästen eingezwängte Gesichter, wie wir sie von Musiałczyk kennen, finden sich bei Plakaten von Wiktor Sadowski, bandagierte und vollständig verbundene Physiognomien bei Andrzej Pągowski. Der schreiend aufgesperrte Mund aus Musiałczyks Folge „Es taumelt“ (1996, Abb. 44 . ), natürlich auch bekannt als Motiv von Munch, findet sich zuvor bei Krzysztof Bednarski, Wiesław Wałkuski und Pągowski. Umgekehrt wurden die separierten, unbeweglichen Gesichter aus Musiałczyks „Schauenden Steinen“ später, und zwar ab 1985 bis in die 2000er Jahre hinein, bei zahlreichen Künstlern wie Stasys Eidrigevičius, Jerzy Czerniawski, Sadowski, Leszek Żebrowski und Mieczysław Górowski geradezu zum Standardmotiv.[73]
Doch Musiałczyks figürliche Szenen sind nicht ausschließlich voller Melancholie und Traurigkeit, wie häufig geschrieben wird.[74] Ihre Figuren lassen Nähe zu, sind in Streit und Kampf nicht für immer getrennt, sondern auf ewig miteinander verbunden. Einzelne treten aus der Masse heraus und gehen ihren eigenen Weg. „Da ich Deine kleinen Zeichnungen betrachte und plötzlich sehe“, schrieb Piotr eL 1998 aus Częstochowa, „hier gibt es auch noch etwas Neues, das Zuversicht gewährt“.[75]
[69] Siehe Anmerkung 43.
[70] Janusz Rudnicki an Janina Musiałczyk anlässlich der Ausstellung Neue Zeichnungen im Pro Linguis Kulturforum, Hamburg, Januar 2001.
[71] Vergleiche auf diesem Portal Regina Wenninger: Polnische Plakatkunst in der Bundesrepublik der Nachkriegszeit (2017), https://www.porta-polonica.de/de/atlas-der-erinnerungsorte/polnische-plakatkunst-der-bundesrepublik-der-nachkriegszeit.
[72] Vergleiche auf diesem Portal Axel Feuß: Das Sammlerehepaar Joanna und Mariusz Bednarski redet über polnische Plakatkunst, https://www.porta-polonica.de/de/atlas-der-erinnerungsorte/das-sammlerehepaar-joanna-und-mariusz-bednarski-redet-ueber-polnische, insbesondere Seite 3.
[73] Die umfangreiche Sammlung polnischer Plakate von Mariusz Bednarski (Berlin) findet sich auf seiner Verkaufsseite Pigasus Polish Poster Shop, https://polishpostershop.com/poster/polnische-filmplakate.html (zuletzt aufgerufen am 25.10.2023).
[74] „In manchen Bildern schafft Janina Musialczyk eine irritierende Melancholie, andere sind auf eine traurige Art poetisch, zuweilen bedrückend.“ (Larissa Wasserziehr 2019, siehe Anmerkung 34). – „Die Physiognomie ist nicht exakt deutbar, neigt jedoch eher zur Traurigkeit oder Melancholie.“ (Patrick Schmidt, Eröffnungsrede zur Ausstellung Federstriche für heute, Farbschichten für gestern. Janina Musiałczyk, Zeichnungen und Bilder, Künstlerhaus Bergedorf, Hamburg 1998).
[75] Piotr eL an Janina Musiałczyk, 17.11.1994 (Übersetzung aus dem Polnischen: F.L./Z.M.).
Anfänglich, zu Beginn der 2000er Jahre, war die Künstlerin während ihrer Reisen zwischen Hamburg und Łódź, auf denen Dutzende von Fotografien aus dem fahrenden Zug heraus für neue Künstlerbücher entstanden, noch ungeduldig: „renne zu dir / renne und renne / bäume flackern vorbei / […] räder pochen / fluren wälder / städte städtchen / renne und renne“.[76] Ein Jahrzehnt später erwies sich die Angst, nicht nur wichtige Reiseutensilien, sondern auf einer dieser Reisen auch die Erinnerungen verloren zu haben, lediglich als böser Traum, verbunden mit der Gewissheit, dass doch nicht alles abhandengekommen war: „traum von verlorenem koffer / von vergessenen schätzen / vom wandern auf schlammigem weg / vom suchen entlegener orte / […] wo einst ich schon war / wo mein gepäck harrt“.[77]
In den Jahren 2000 bis 2007 schuf Musiałczyk unter dem gemeinsamen Titel „Episoden“ (Abb. 88–92 . ) mehrere Folgen kleinformatiger farbiger Bildergeschichten, in denen sie seelische Verstrickungen Einzelner, Beziehungen zwischen Paaren und auch einmal Dreiergeschichten schilderte. An jedem Tag, schrieb sie 2005, sei ein kleines Bild entstanden, dem Wunsch entsprechend, „einzelne Szenen dem Lauf der Ereignisse und der Gleichförmigkeit, in der sie untergehen, zu entreißen.“[78] Geschult in der Analyse psychischer Befindlichkeiten, widmete sie sich nun mit genauer Beobachtung und im Stil der Bildsatire menschlichem Umgang und Handlungsweisen, wie sie überall im Alltag zu finden sind. Überzeichnend und niemals bierernst reduziert sie Figuren auf ein Körperteil, begrenzt Paare auf einen Umriss und erweitert Gliedmaßen auf die Klammerfunktion um deutlich zu machen, dass jeder mit jedem verbunden ist und nur im Ausnahmefall einer für sich allein existiert. Piotr eL schrieb: „In ihren Arbeiten finde ich etwas, das erschreckt, was aber auch diskret lindert: Janina sieht schmerzend scharf, was beschämt und betrübt, doch wird diese Schärfe gemildert durch die Herzlichkeit und Wärme ihres Blicks auf die privaten kleinen Dramen, die das Leben eines und einer jeden von uns formen.“[79]
Unter dem Eindruck der Migrationskrise zwischen Belarus und der Europäischen Union im August 2021, während der Flüchtlinge unter anderem aus Afghanistan und dem Irak wochenlang im Grenzgebiet zwischen Belarus und Polen festgehalten wurden und zehn Migranten starben, begann Musiałczyk auch mit Rückbezug auf ihre eigene Fluchtgeschichte unter dem Arbeitstitel „Flucht – Zuflucht“ eine neue Serie von Zeichnungen und Gemälden. Mit dem Plan, den kontinuierlich aktualisierten Bildern in den öffentlichen und sozialen Medien „mit traditionellen Techniken und kleinen Formaten […] einem ganz anderen Zeugnis Raum zu geben – gleichsam Zuflucht zu gewähren – dem stillen, intimen, nicht diskursgeprägten Ausdruck“,[80] schuf sie auf dunkel vorgefärbten Papieren Arbeiten mit farbigen Zeichentuschen, weißer und schwarzer Ausziehtusche, Holzfeder, Bunt-, Filz- und Lackstiften und kombinierte sie mit Monotypie und der schon früher verwendeten Stempeltechnik. Acrylbilder entstanden auf dunkel vorgefärbten Leinwänden und getöntem Papier. Für die anschließende Herstellung eines Künstlerbuchs aus einigen dieser Arbeiten mit dem Titel „Seh nicht, also ist nicht / Nie widzę, więc nie ma“ erhielt die Künstlerin noch im selben Jahr eines der von der Hamburger Kulturbehörde in Zusammenarbeit mit der Hamburgischen Kulturstiftung und dem BBK Hamburg vergebenen „Hamburger Zukunftsstipendien für Bildende Kunst und Literatur“.
Die ausklappbaren Doppelseiten des 2022 erschienenen Künstlerbuchs zeigen Menschen, die sich durch tiefe Wälder schlagen, durch Unterholz und Grasland vorwärtsdringen, vor Zäunen stehen und um Hilfe schreien und schließlich aus dem Dunkel hervortreten (Abb. 93–99 . ). Doch auch ihre Situation ist nicht hoffnungslos, denn einzelne von ihnen schreiten zuletzt, am Schluss des Buches, in ein lichtes Blau. Piotr eL resümierte: „ … welch ein ungeheuer schmerzender Schrei. […] … die sublimierte Hypostase einer drastischen Beobachtung, also das, worum es der Kunst auch gehen kann.“[81]
Der Titel dieses vorerst letzten Buches der Künstlerin, „Nie widzę, więc nie ma / Seh nicht, also ist nicht“,[82] in dem Sehschlitze zwischen den eingeklappten Doppelseiten wie durch einen Türspalt Einblicke auf das dahinter vor sich gehende Drama ermöglichen, könnte als Motto über dem Gesamtwerk von Janina Musiałczyk stehen: Geschehnisse können nur dann vor der Wirklichkeit bestehen, wenn man die Augen nicht vor ihnen verschließt. Nur das, was sichtbar gemacht wird, und sei es durch Kunst, existiert. Jenes, wovor wir die Augen verschließen, fällt dem Vergessen anheim.
Axel Feuß, Oktober 2023
[76] renne zu dir, oktober 2004/2, in: w drodze_unterwegs 2015 (siehe Anmerkung 32).
[77] traum von verlorenem koffer, 17. November 2013, ebenda.
[78] Janina Musiałczyk: Episoden, Eigenverlag, Hamburg 2005.
[79] Piotr eL anlässlich der Ausstellung Janina Musiałczyk. Szukajac formy znajduję anegdotę (dt. Auf der Suche nach Form finde ich die Anekdote), Galeria Nieformalna, Warschau, 20.8.2015 (Übersetzung aus dem Polnischen: F.L./Z.M.).
[80] Aus dem Verwendungsbericht von Janina Musiałczyk für das „Hamburger Zukunftsstipendium für Bildende Kunst und Literatur“, März 2022.
[81] Piotr eL (Częstochowa) in einem Brief an Janina Musiałczyk vom 27. August 2022.
[82] Janina Musiałczyk: Seh nicht, also ist nicht. / Nie widzę, więc nie ma., Buchkonzeption und Typographie: Iga Bielejec, Eigenverlag, Hamburg 2022.
Stimmen von Menschen, die die Künstlerin auf ihrem Weg begleitet haben:
Suche nach der perfekten Komposition
Janina Musiałczyk, für uns INKA. Vor 20 Jahren habe ich das kleine Künstlerbuch von Inka bekommen, „Zeichnungen und Texte”, mit reduzierten, fast trockenen kurzen Texten über ihren Weg von Polen nach Hamburg. Ich habe während des Lesens geweint, einfach geweint. Ich konnte mich nicht kontrollieren. Dank ihrer minimalistischen Mittel ist es Inka gelungen, ein ernstes Thema, MIGRATION, sehr tief anzupacken. Ich habe noch ein paarmal dieses kleine Buch gelesen und wieder geweint.
Natürlich gibt es schöne, ausbalancierte bunte Flächen in Inkas Malerei. Man spürt eine unglaubliche Konsequenz und Sturheit in ihrer Suche nach einer perfekten Komposition. Ja, wegen Inkas Umgang mit Farben bin ich als Maler immer etwas neidisch. Man spürt bei Inka eine große Liebe zur Farbe und einen großen Respekt vor der Malerei, aber gleichzeitig eine Bescheidenheit in der Berührung mit der Kunst. Vielleicht hat das ihr Professor aus Łódź, Stanisław Fijałkowski, vermittelt.
– Wiesław Smętek, Illustrator, Maler, Zeichner und Freund von Janina Musiałczyk. Seevetal, 2023 –
Kunstlehrerin in Łódź
Ich war acht Jahre alt, als mein Vater mich zu einem Kunstunterricht brachte, der von einer außergewöhnlichen Frau geleitet wurde, die in wöchentlichem Rhythmus für die nächsten zehn besonders prägenden Jahre einen gewaltigen Einfluss auf mich ausübte. Es folgten vierzig weitere Jahre unserer Begegnungen sowohl in Briefen als auch in einem flüchtigeren, gedanklichen Austausch.
– Piotr eL. Częstochowa, 2023 (Übersetzung aus dem Polnischen: F.L./Z.M.) –
Kunstlehrerin und wunderbarer Mensch
Inka Musiałczyk ist eine der wichtigsten Personen in meinem Leben, der ich sehr viel verdanke. Schon aus meinem Elternhaus in Polen nahm ich das Interesse und die Affinität zur Kunst mit. So bin ich dann in einem Alter, das mich als Mensch geprägt hat und mich vor Entscheidungen über meinen weiteren Lebensweg stellte, nämlich als 16/17-Jähriger, in der Kunstklasse von Inka Musiałczyk gelandet. Dort war es mir gegeben nicht nur die hervorragende Kunstlehrerin kennen zu lernen, sondern auch einen wunderbaren Menschen. Nach einigen Jahren Pause, die nur durch seltene Briefe unterbrochen wurde, konnte ich in Deutschland, wo ich seit Jahren lebe und als Papierrestaurator arbeite, Inka wieder treffen. Die Relation zwischen Lehrerin und Schüler hat sich in eine starke Freundschaft verwandelt. Inka bereichert mein Leben nicht nur mit ihrer Kunst, die ich sehr schätze, sondern sie hat stets auch ein offenes Ohr und gibt, wenn nötig, guten Rat.
– Krzysztof Nast M.A., Restaurator. Kleve, 2023 –
„Sie verkörperte für uns die Welt der Kunst“
Der Palast der Jugend/Pałac Młodzieży in Łódź, untergebracht in einem schönen modernistischen Bauwerk im Stadtzentrum, war der Ort vieler kreativer Werkstätten, unter anderem eines Ateliers für bildende Kunst, geleitet von Janina Musiałczyk.
Es war ein Ort künstlerischer Initiation, Inspiration und Begegnung mit ähnlich empfindsamen Gleichaltrigen. Einige von uns blieben Freunde fürs Leben.
Zur Einweihung in die Kunst gehörten Zeichnen, einfache grafische Techniken wie Monotypie, erst dann Malerei vom Aquarell bis hin zur ersehnten Herausforderung: Ölfarben und Malen auf Leinwand an der Staffelei. Sinnlich und geheimnisvoll klingende Namen von Farben auf der Palette: Ultramarin, Pariser Blau, Ägyptisch Blau, Ocker, Umbra, Satinober, Veronesergrün … Begriffe und Grundlagen der Bildkomposition, Denken vermittels Symbolen und grafischer Zeichen im Plakat, Realismus der Verbildlichung und abstraktes Denken. Studienreisen, Gespräche über Kunst, ein Gefühl der Zugehörigkeit zu einem außergewöhnlichen Ort. Diese Versuche standen unter der Obhut von Janina Musiałczyk, Inka. Schön, freundschaftlich, klug, stilvoll wie ein Hauch künstlerischer Vollendung. Wir himmelten sie an. Sie verkörperte für uns die Welt der Kunst, zu der wir hinstrebten. Sie war es, die die Atmosphäre dieser wirkmächtigen Werkstatt geschaffen hatte. Sie war vor allem eine begnadete Lehrerin. Später schenkte sie uns, einer Gruppe ihrer Schüler, ihre Freundschaft.
Das Schaffen von Janina Musiałczyk lernte ich so richtig erst später kennen, und es überraschte mich. Es war keine oberflächliche Ästhetik, obschon es in ihrer Malerei schöne, farblich erlesene, subtile Kompositionen gibt.
Es ist existenzielle Kunst, aufrichtig, persönlich, zuweilen beinah schmerzend. Das Protokollieren der Wanderschaft, ja, des Umherirrens, fehlender Verwurzelung, was die Titel der Arbeiten spiegeln (etwa „Kommen, werden, gehen“). Das Motiv des auf dem Rücken getragenen oder auf Rädern gezogenen Hauses, die ganze eigene Welt gepackt in einen Koffer, auf einer Karre, in einem Bündel, die Chiffre des Hauses, das wieder und wieder einzurichten ist, unterwegs, in „Mieträumen“, im Suchen nach einer Anlegestelle.
Zeichnungen, die Verwicklungen mit dem Anderen und sich selbst veranschaulichen, im Guten wie im Schlechten, in Liebe und Streit, Verstrickungen, der Kopf auf dem Rücken getragen wie ein Sorgenbuckel, Begegnungen und Trennungen unterwegs. Emotionen gebannt in Kurzdramen, wie kleine Theater-Szenen.
Besonders mag ich die zeichnerischen (Selbst-) Bildnisse, wo auf dem Brustkorb oder auf dem Bauch ein zweites Gesicht erscheint, wie ein die Welt verstohlen beobachtendes inneres Kind oder ein wach gewordener innerer Beobachter.
Für diese existenzielle, diesseitige Meditation hat Janina Musiałczyk eine raue, vereinfachte Form gefunden, die die Beobachtung schärft, das Beobachtete schärfer hervortreten lässt. Der Mut zur Aufrichtigkeit, der Mut, die innere, inwendige Welt zu zeigen in all ihrem existenziellen Ringen, machen den ungewöhnlichen Wert dieser Kunst aus. Sie ist ein Spiegel, der das universale, uns allen gemeinsame Schicksal zurückwirft.
– Małgorzata Misiowiec, Grafikdesignerin. Łódź, 2023 (Übersetzung aus dem Polnischen: F.L./Z.M.) –
Als Lehrerin und Mentorin in Hamburg
Schicksalsbegegnung: Mein Blick auf Malerei, Zeichenkunst und Komposition wurde von Janina Musiałczyk im tiefsten Sinne erweitert und wird bis heute mit der ihr eigenen empathischen Kompetenz begleitet.
– Rosemarie Burmeister, Studienrätin, Schriftstellerin und Malerin. Hamburg, 2023 –
„Vertrauen in unser Können“
Unsere Lehrerin Janina: Aufgabenstellungen, die uns größtmögliche Freiheit ließen, sie umzusetzen; persönliche einfühlsame Anleitung und Begleitung, getragen von dem wahrhaftigen, leidenschaftlichen Wunsch, dass wir zu unserem eigenen Ausdruck und Stil finden; ansteckendes Vertrauen in unser Können. Ich habe von dem Menschen und der Künstlerin Janina sehr viel gelernt, auch über mich selbst, und bin Ihr dankbar verbunden.
– Remda Saborowski, Schülerin für Zeichnung, Malerei und Komposition der Kunstschule von Janina Musiałczyk von 1990 bis 2008. Wedel bei Hamburg, 2023 –
Eine Brücke zur Kunst
Janina Musiałczyk ist eine meiner wichtigsten Lehrerinnen. Sie hat eine Brücke für mich zur Kunst gebaut, die mir in meinem Studium der visuellen Kommunikation gefehlt hat. Sie war als Lehrerin immer inspirierend und sehr genau in ihren Anmerkungen. Ich habe sie heute noch im Ohr, wenn ich arbeite. Auch ihr ermunterndes ‚mach mal weiter‘, wenn es nicht so gut lief. Sie war immer großzügig mit ihrem Wissen und Kontakten, hat Einblicke in ihre Arbeit und ihr Leben gewährt. Ihr Blick auf die Welt hat meinen Blick erweitert und sicherlich hat mich ihr Stil, speziell beim Zeichen geprägt.
– Silke Storjohann, freie Fotografin. Hamburg, 2023 –
„Das jahrelange Miteinander“
Ich war nie eine Schülerin von Janina Musiałczyk. Und doch, das jahrelange Miteinander, geführt durch Freundschaft und das künstlerische Dasein, hat mich geprägt und gelehrt. Ihre tiefgründigen Arbeiten berühren mich seit jeher so sehr, dass ich sprachlos werde, wenn ich vor den zarten und doch so starken Strichen in ihren grafischen Bildern stehe. Sie ist und war stets sehr konsequent, positiv streng und heimatverbunden. Die Themen eines „vom Gefühl angefüllten Menschen“, so herzlich, so tief, manchmal zerrend traurig, aber doch so menschlich … einfach großartig! Wir sind Kusinen, ihre Mutter und mein Vater waren Geschwister. Wir kamen uns erst im erwachsenen Leben nah, doch das Gefühl der Verbundenheit haben wir durch Kunst, durch ihre Kunst, gewonnen.
– Agata Schubert-Hauck, Künstlerin. Berlin, 2023 –
Erinnerungen an Janina Musiałczyk aus Paris
Hattest du das Glück, als junger Mensch in Paris gelebt zu haben,
dann bleibt es, wohin du für den Rest deines Lebens auch gehst, bei dir,
denn Paris ist ein bewegliches Fest.[83]
Hattest du das Glück, Inka als junger Mensch begegnet zu sein,
dann geht sie, wohin du für den Rest deines Lebens auch gehst, mit dir
wie ein bewegliches Fest.
In den zauberischen verwinkelten Gassen des beweglichen Fests ist alles möglich. An zauberischen Orten wird Vergangenheit hin und wieder zum heutigen Nachmittag. Und obgleich flüchtig, hat sie ihre Gestalt, ihr Gewicht und ihr Maß. Umgrenzt werden diese von Zeit und Ort. Doch haben Erinnerungen ihre Kraft, ihren Farbklang, ihren Rhythmus von Aufscheinen und unerwartetem Verschwinden. Derweil ich die Place de la Contrescarpe vom Pariser Restaurant Le Volcan aus beobachtete, sah ich den Schatten von Ernest Hemingways Schritten zu seiner Wohnung gehen.[84] Man konnte sein vom Wind hergetragenes Gespräch mit Gertrude Stein hören. Ein weiterer Hauch, diesmal von der Grünanlage des Santiago du Chili,[85] wehte ein leises Stimmchen her.
Kaum hörbar vernahm ich: Bitte zeichne mir ein Schaf.[86]
Unerwartet klangen die folgenden Worte schon etwas kräftiger: Bitte zeichne Erinnerungen auf.
Ich stand auf. Blickte um mich. Versuchte auszumachen, woher die Bitte kam. Fußgänger schritten eilig oder langsam, zuweilen gedankenverloren, an den zu dieser Stunde noch leeren Tischen vorbei.
Ich kehrte nicht mehr an den Tisch zurück, Herberts Rat eingedenk: Alles, was man am Tisch macht, erledige man kühl und sachlich.[87] Also setzte ich mich nicht mehr hin. Erinnerungen zeichne man nicht kühl und sachlich auf.
Inkas zauberische Lehrstunden im Erleben von Kunst gehen uns nach, und sehen wir uns aufmerksamer um, so gewahren wir, dass sie uns unausgesetzt begleiten. Und uns zuweilen sogar vorauseilen. Erst später werden wir uns dessen bewusst, dass Inka unsere weiteren Schritte lenkte, auch in Zeiten, als sie weit weg war.
Nicht allein in der Beziehung Meister–Schüler war sie eine Freundin von außergewöhnlicher Autorität. Mit zartem Lächeln wies sie den Weg, ohne ihn jedoch ausdrücklich zu bezeichnen. Eigene Wahl und Deutung erlaubte sie. Selbstständige Entscheidungen erwartete sie. Mit warmer Stimme milderte sie Widerständigkeiten und Niederlagen, wartete geduldig, bis das Ziel erreicht war.
Man musste schnell erwachsen werden, um dieser Botschaft zu folgen und deren Sinn zu verstehen. Und dann und wann reicht es aus, die Augen zu schließen, um zu sehen — und sich zu konzentrieren, um den Zauber der Kunst zu fühlen.
Es war die schönste Lehrstunde im Entdecken von
Gemütsbewegungen, die verborgen sind in der Kunst.
Es war ein bewegliches Fest.
– Prof. dr hab. inż. arch. Marek Pabich, Leiter der Abteilung für Zeichnung, Malerei und Bildhauerei, Direktor des Instituts für Architektur und Stadtplanung, Technische Universität Łódź / Politechnika Łódzka, 2023 (Übersetzung aus dem Polnischen: F.L./Z.M.) –
[83] Ernest Hemingway: A Moveable Feast [Ruchome święto / Paris – Ein Fest fürs Leben], 1964.
[84] 74, rue du Cardinal Lemoine.
[85] In der Grünanlage Santiago du Chili steht die von Madeleine Tezenas du Montcel geschaffene Büste von Antoine de Saint-Exupéry.
[86] Antoine de Saint-Exupéry: Der kleine Prinz [Le petit prince 1943 / Mały książę 1947], 1950.
[87] Zbigniew Herbert: Ostrożnie ze stołem (Vorsicht mit dem Tisch), in: Studium przedmiotu (Studium des Gegenstandes), 1961.