Janina Musiałczyk. W drodze, unterwegs
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Weitere Serien der Neunziger- und Zweitausenderjahre thematisieren das Schwanken zwischen verschiedenen Seelenzuständen wie in der Folge „Es taumelt“, zwischen Bleiben und Gehen in Zeiten von Krieg, Zerstörung und Verfall (Abb. 40 . , 41 . ), zwischen Zeiten, in denen man den Boden unter der Füßen verliert (alle 1995, Abb. 54 . , 59 . ), einem letzten Aufschrei (1996, Abb. 44 . ) und Situationen, in denen man sich in widersprüchlichen Gefühlen verfängt (2000/01, Abb. 31 . , 30 . ). Die Folgen „Von hier bis dort“ (1996, Abb. 56 . , 57 . ), „Unterwegs“ (1996-98, Abb. 5 . , 6 . , 63 . ), „Auf Reisen“ (2000, Abb. 61 . ) und „Zusammen“ (2000, Abb. 27–29 . ) zeigen die Wanderer allein, in Gruppen und als Paare, eingezwängt, verschlungen oder in gegenseitigem Kampf. Sie fliehen während ihres „Fortgangs“ im „Ornament der Masse“ (Siegfried Kracauer) oder in ewig suchendem Hindernislauf (2000, Abb. 17 . , 45–49 . , 85 . ).
Musiałczyk überträgt in ihren seit 1981 entstandenen Serien eigenes Erleben in gezeichnete und gemalte Parabeln, die durch die stilistischen Mittel der Neuen Figuration, aber auch durch Rückbezüge zu Literatur, Mythologie und Kunstgeschichte Allgemeingültigkeit erlangen. Hohe kompositorische, zeichnerische und koloristische Qualität bewirken ein erzählerisches Niveau, das die Lesbarkeit der Bildszenen jenseits ihrer biografischen Verflechtungen ermöglicht – etwa wenn die Künstlerin die Bewegung der Figuren durch das Papierformat begrenzt (Abb. 53 . ), durch chaotische Strichlagen Dramatik erzeugt (Abb. 40 . ) oder durch eine besondere Art des Sfumato Beziehungen der Figuren untereinander oder zur Außenwelt charakterisiert (Abb. 28 . , 70 . ).
Wojciech Leder bezog sich 1998 in seinem Essay auf diese allgemeingültige Ebene: „Die Arbeiten meiner Lehrerin zeugen von einer ungewöhnlich subjektiven Wahrheit, die jedoch vielen Menschen gemeinsam ist. […] Diese Bilder sind ein einsamer Umgang mit […] der Zeit, die von der Sehnsucht nach vergangenen Orten, vergangenen Menschen […] geprägt ist. […] Der Intimitäts- und Aufrichtigkeitswert sickert von Empfindsamkeit zu Empfindsamkeit – beinah ein zärtliches Flüstern.“[69] Der seit 1983 in Hamburg ansässige polnische Schriftsteller und Essayist Janusz Rudnicki fühlte sich an eigene Erfahrungen erinnert: „An deinen Arbeiten hat mich aber etwas innehalten lassen. Bahnhof Mitte der sechziger Jahre, ich zehn Jahre alt, nach fünfzehn Uhr, Tag für Tag. Ich warte auf den Zug, auf Mutter, wie jeden Tag, sie kam damit von der Arbeit. Aus dem Zug ergießt sich ein Strom geklonter, grauer und gebückter Menschen. Als träten sie soeben aus einer Höhle hervor. Aus der Höhle nach Hause, ihr täglicher Marsch. Nicht auf etwas zu, sondern im Kreis. […] Es quälte mich: woher kenne ich diese menschenartigen Gestalten. […] Weißt Du, was es ist? Chromosomen. […] Zyklische Wandlungen, lange Ketten, fühlst du dich da nicht zu Hause?“[70]
Eine Affinität der Künstlerin besteht zur polnischen Plakatkunst, die seit den 1950er Jahren auch in der Bundesrepublik Deutschland in Ausstellungen und Publikationen präsent war und seitdem in öffentlichen und privaten Sammlungen vertreten ist.[71] Bei Film-, aber auch bei Theater-, Opern- und Ausstellungsplakaten hatten polnische Kunstschaffende in der frühen Nachkriegszeit eine neue Ästhetik entwickelt, wobei die Themen anders als bei Hollywood-Plakaten nicht direkt ins Bild übertragen, sondern in abstrakten oder expressiven Zeichen und Figuren verschlüsselt wurden.[72] Während in den Sechzigerjahren und zu Anfang der Siebzigerjahre farbige Entwürfe mit puppenartigen Motiven vorherrschten, wurde die Bildwelt zum Ende der Siebzigerjahre und in den Achtziger- und Neunzigerjahren düsterer. Jetzt herrschten unbewegliche Gesichter und zerstörte Physiognomien vor. In Kästen eingezwängte Gesichter, wie wir sie von Musiałczyk kennen, finden sich bei Plakaten von Wiktor Sadowski, bandagierte und vollständig verbundene Physiognomien bei Andrzej Pągowski. Der schreiend aufgesperrte Mund aus Musiałczyks Folge „Es taumelt“ (1996, Abb. 44 . ), natürlich auch bekannt als Motiv von Munch, findet sich zuvor bei Krzysztof Bednarski, Wiesław Wałkuski und Pągowski. Umgekehrt wurden die separierten, unbeweglichen Gesichter aus Musiałczyks „Schauenden Steinen“ später, und zwar ab 1985 bis in die 2000er Jahre hinein, bei zahlreichen Künstlern wie Stasys Eidrigevičius, Jerzy Czerniawski, Sadowski, Leszek Żebrowski und Mieczysław Górowski geradezu zum Standardmotiv.[73]
Doch Musiałczyks figürliche Szenen sind nicht ausschließlich voller Melancholie und Traurigkeit, wie häufig geschrieben wird.[74] Ihre Figuren lassen Nähe zu, sind in Streit und Kampf nicht für immer getrennt, sondern auf ewig miteinander verbunden. Einzelne treten aus der Masse heraus und gehen ihren eigenen Weg. „Da ich Deine kleinen Zeichnungen betrachte und plötzlich sehe“, schrieb Piotr eL 1998 aus Częstochowa, „hier gibt es auch noch etwas Neues, das Zuversicht gewährt“.[75]
[69] Siehe Anmerkung 43.
[70] Janusz Rudnicki an Janina Musiałczyk anlässlich der Ausstellung Neue Zeichnungen im Pro Linguis Kulturforum, Hamburg, Januar 2001.
[71] Vergleiche auf diesem Portal Regina Wenninger: Polnische Plakatkunst in der Bundesrepublik der Nachkriegszeit (2017), https://www.porta-polonica.de/de/atlas-der-erinnerungsorte/polnische-plakatkunst-der-bundesrepublik-der-nachkriegszeit.
[72] Vergleiche auf diesem Portal Axel Feuß: Das Sammlerehepaar Joanna und Mariusz Bednarski redet über polnische Plakatkunst, https://www.porta-polonica.de/de/atlas-der-erinnerungsorte/das-sammlerehepaar-joanna-und-mariusz-bednarski-redet-ueber-polnische, insbesondere Seite 3.
[73] Die umfangreiche Sammlung polnischer Plakate von Mariusz Bednarski (Berlin) findet sich auf seiner Verkaufsseite Pigasus Polish Poster Shop, https://polishpostershop.com/poster/polnische-filmplakate.html (zuletzt aufgerufen am 25.10.2023).
[74] „In manchen Bildern schafft Janina Musialczyk eine irritierende Melancholie, andere sind auf eine traurige Art poetisch, zuweilen bedrückend.“ (Larissa Wasserziehr 2019, siehe Anmerkung 34). – „Die Physiognomie ist nicht exakt deutbar, neigt jedoch eher zur Traurigkeit oder Melancholie.“ (Patrick Schmidt, Eröffnungsrede zur Ausstellung Federstriche für heute, Farbschichten für gestern. Janina Musiałczyk, Zeichnungen und Bilder, Künstlerhaus Bergedorf, Hamburg 1998).
[75] Piotr eL an Janina Musiałczyk, 17.11.1994 (Übersetzung aus dem Polnischen: F.L./Z.M.).