Janina Musiałczyk. W drodze, unterwegs
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Ihre emotionale Bindung an Häuser und Wohnungen verbildlichte Musiałczyk in verschiedenen zeitlichen Perioden und Bildserien ihres malerischen und zeichnerischen Werks. Eng mit dem Themenkomplex von Flucht und Migration verbunden, zeichnete sie 1993 in der Folge „Kommen, werden, gehen“ (Abb. 32–39 . , 42 . ) Menschen mit Leiterwagen auf ihrer Wanderschaft über verschlungene, spiralförmige und kopfstehende Wege. Die Wagen bergen Häuser und ganze Städte, die als Last der Erinnerung mit sich geführt werden. Bürden der Erinnerung sind aber auch Menschen, die am Rücken festgebunden, gefesselt und in langer Reihe hinter sich hergezogen, als sitzendes Paket hinterher geschleppt oder als Kranke und Sterbende zu den Häusern und Städten hinzugelegt werden. Häuser, die beim Weggang verlassen werden oder bei der Ankunft verschlossen bleiben, zeigen sich mit vernagelten Fenstern und Türen.
1995/96 zeichnete sie in der Serie „Begegnungen unterwegs“ Figuren, die ganze Städte auf dem Rücken und der Brust mit sich tragen (Abb. 1 . ). Andere haben ihr Haus für die Reise zu zweit auf Räder gestellt (Abb. 69 . ), führen es auf einem Beiwagen mit sich (Abb. 68 . ) oder balancieren es auf dem Arm (Abb. 67 . ), während sie gleichzeitig mit Rädern, die eigentlich der schnellen Fortbewegung dienen sollen, jonglieren: Metaphern für eine zwischen Gehen und Bleiben schwankende Existenz. Noch in der dritten, 2012 entstandenen Serie zeigt die Künstlerin ein sich intim zugewandtes Paar, dessen männliche Figur das Haus ihrer Herkunft und Jugend als schwere Bürde mit sich trägt (Abb. 51 . ).
„Unterwegs“ begegnen wir in großformatig ausgeführten Acrylgemälden Einzelfiguren und Paaren, die sich eingezwängt in Häuser oder in auf Räder gestellten Räumen, Gefängnissen ihrer Erinnerung, auf die Fahrt begeben haben (Abb. 5 . , 6 . ). In einer späteren Zeichnung dieser Folge (1998, Abb. 63 . ) führt eine riesenhafte, hoch aufgerichtete und selbstbewusste weibliche Gestalt, die mit schweren Schuhen durch die Landschaft wandert, ein winziges Haus auf Rädern, das die Heimat oder den Schatz an Erinnerungen in sich birgt, als beständiges Anhängsel mit sich.
In denselben Jahren schuf die Künstlerin unter dem Titel „Es taumelt“ sowohl in der Malerei als auch in Tuschezeichnungen Ansichten fragil übereinander gestapelter oder durcheinander fallender Häuser und Kirchen,[11] die an die Bildwelt von Marc Chagall erinnern. Chagall schilderte in Gemälden vor dem Ersten Weltkrieg ebenso wie in den Radierungen der Folge „Mein Leben“ (1922/23) nach der Emigration nach Berlin die Alltagswelt seiner Heimatstadt Witebsk, der jüdischen Vorstadt und der russischen Dörfer, in denen Häuser, Straßen, möblierte Interieurs und Menschen in geordnetem Chaos durcheinander schweben und stürzen und so zu Ankern der Erinnerung werden: „Es scheint mir, dass ich fern der Heimat ihr näher war, näher als viele andere, die dort lebten …“[12] Auch er balanciert auf seinem „Selbstporträt“[13] das Elternhaus auf dem Kopf: „Kirchen, Zäune, Synagogen ringsrum, einfach und ewig wie die Gebäude auf den Fresken von Giotto […] Hier, in der Pokrowskaja-Straße, wurde ich zum zweiten Mal geboren.“[14]
Die von Musiałczyk für die Serie „Es taumelt“ geschaffenen Zeichnungen wirken allerdings dramatischer. Hagere menschliche Figuren, die im Schrecken erstarrt und doch in heller Aufregung sind, stehen und liegen übereinander vor der Kulisse einer Stadt. Feste Schuhe und untergeschnallte Räder deuten auf den Beginn der Emigration. Die Schornsteine der Stadt rauchen bedrohlich (Abb. 40 . ). Explosionsartig verlieren sich Gebäude im Himmelsraum, eine aufgestellte Leiter führt ins Nichts (Abb. 41 . ). Ein panisch schreiendes Gesicht, das in einen schwarzen Raum eingezwängt ist, wird von rollenden und fliegenden Rädern bedrängt und gequält (Abb. 44 . ).
„In der Kunst ist das Haus meistens eine Metapher für einen dem Menschen nächsten Raum, ein Zeichen für Zuflucht und Geborgenheit“, schreibt der Hamburger Slawist Waldemar Klemm: „Hier jedoch, auf dem eigenen Rücken oder im Gepäck, als Spur der Vergangenheit getragen, etwas unverfälscht Eigenes, kann es auch eine Last sein, welche die Bewegung erschwert, ein für die in ihn hineingezwängten Gestalten zu enger Raum oder irgendetwas von dem Menschen Getrenntes, für ihn Unzugängliches. […] Charakteristisch sind schließlich die Darstellungen, in welchen die Silhouetten in Räumen, Käfigen gleich, platziert werden, endgültig und restlos, nicht ohne selbst dazu beigetragen zu haben, der Isolation im Haus als Gefängnis preisgegeben.“[15]
[11] Aus der Reihe „Es taumelt“, 1994, Feder, schwarze Tusche, 29 x 40 cm; Aus der Reihe „Es taumelt“, 1996, Acryl auf Leinwand, 60 x 70 cm (zwei Darstellungen mit demselben Titel, Vorder- und Rückseite); Aus der Reihe „Es taumelt“, 1994, Feder, schwarze Tusche, 29 x 40 cm; alle in: Janina Musiałczyk: Zeichnungen und Bilder, Hamburg/Łódź 1998, Nr. 1–3, 20.
[12] Zitiert nach Ernst-Eberhard Güse: Die Radierungen zu „Mein Leben“, in: Marc Chagall. Druckgraphik, herausgegeben von Ernst-Eberhard Güse, Stuttgart 1985, Seite16.
[13] Marc Chagall: Selbstporträt, 1922, aus der Folge „Mein Leben“, Blatt 17, Radierung und Kaltnadel, 27,5 x 21,5 cm (Kornfeld 17); vgl. Güse 1985 (siehe Anm. 12), Abb. 17, Seite 32. Vergleiche auch das Einzelblatt „Selbstbildnis mit Haus im Gesicht“, 1922/23, Radierung und Kaltnadel, 17,5 x 14,6 cm (Kornfeld 30), ebenda, Abb. 274, Seite 244.
[14] Marc Chagall: Mein Leben, Stuttgart 1959, Seite 6.
[15] Waldemar Klemm: „Die Kunst von Janina Musiałczyk ist figurativ …“, in: Zeichnungen und Bilder 1998 (siehe Anm. 11), nach Nr. 2.