Janina Musiałczyk. W drodze, unterwegs
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Doch Musiałczyks Bildsujets künden nicht ausschließlich von „etwas Unheilvollem, vom Antagonismus, von einer Gegensätzlichkeit, die unüberbrückbar ist, vom bösen Ende“ (Klemm). In ihrer seit Mitte der Neunzigerjahre entstandenen Folge „Mieträume“, ausgeführt als Tuschezeichnungen und als Leinwandgemälde mit unterschiedlichen Techniken, dominieren versöhnlichere Pastelltöne, die diffuse Stimmungen erzeugen. In gitterartigen Strukturen, die an Hochhaussiedlungen erinnern, kommen Figuren, die statisch in unterschiedliche Richtungen blicken, zur Ruhe.[16] Gleichwohl finden sich die Menschen systematisch aufgereiht und eingesperrt in kastenartigen Verliesen. Es sind neue, mit Dächern versehene Behausungen, in die sie forsch hineinschreiten, aus denen ein Entrinnen jedoch unmöglich scheint (2002, Abb. 86 . ). In dunklen Momenten wirken diese „Mieträume“ (1998, Abb. 43 . ) als einsamer Mittelpunkt für einen strudelartigen Reigen des Lebens, der die ekstatische Freude am Dasein, die Henri Matisse zeigte,[17] in den Schrecken unaufhörlicher Vereinsamung verwandelt, wie ihn Edvard Munch in Gemälden und Grafiken thematisierte.[18]
Eher versöhnlich erscheint auch die Folge „Für den Jungen“ (1998–2000, Abb. 75–77 . ), in der die Künstlerin für einen abseits stehenden und vereinsamten Knaben, den sie in einem Fotoalbum entdeckte, ein Wohnhaus und eine schützende Familie erfand. In der späteren Serie „Geister und Häuser“ (2015, Abb. 64–66 . ) treten die eigenen Schrecken aus der Kindheit wieder hervor: „Abends vor dem Einschlafen“, erinnerte sich Musiałczyk an das Jahr 1948, „rücke ich die Möbel, verschiebe sie wie Holzklötzchen. Es genügt, die Kredenz in die Zimmermitte vorzuschieben und dort, dahinter habe ich meinen Raum.“[19] Auch ihre Angst vor Häusern und Innenräumen, in denen die Geister der Vergangenheit wohnen und die Schrecken der Gegenwart zuhause sind, erinnert an Bildthemen von Edvard Munch.[20]
Kunstschaffende des Surrealismus wie René Magritte, Paul Delvaux und Giorgio de Chirico kreierten aus kulissenartigen, verlassenen Gebäuden und Interieurs traumartige, angsterfüllte Zwischenwelten, in denen sich Tag und Nacht, Innen- und Außenwelt,[21] vergangene und gegenwärtige Zeiten[22] vermischen, in denen die Zeit stehen bleibt[23] oder erschreckende Erlebnisse aus der Kindheit heraufbeschworen werden.[24] In Musiałczyks Bildsujets erkannte die Hamburger Kunstjournalistin Evelyn Preuß eine von Gefühlstiefe durchglühte „Variante des polnischen Surrealismus“.[25] Der Kölner Kunsthistoriker Wolfgang Till Busse bemerkte eine „besondere poetisch-surreale Tonlage“, die ihren Ursprung in einem unterbewussten und von äußeren Einflüssen ungestörten Erleben habe, wenn „die Hand sich wie von selbst bewegt. Damit folgt sie einer von den Surrealisten in den 1920er Jahren entwickelten Technik, der Écriture automatique.“[26]
Eine obsessive Einstellung zu Innenräumen und Behausungen entwickelte der Schriftsteller Franz Kafka, der 1923 schwer krank aus der auf ihn einschüchternd und bedrohlich wirkenden Prager Wohnung der Eltern nach Berlin floh, um dort mit seiner neuen Lebensgefährtin Dora Diamant einen eigenen Hausstand zu gründen. Hin und her gerissen zwischen befreiender Idylle und finanzieller Bedrängnis musste er auch dort immer neue Unterkünfte suchen, bis er die letzte aufgrund seiner Erkrankung nicht mehr verlassen konnte. Schon zuvor hatte er in seinen Romanen und Novellen eine Mietwohnung in einer entlegenen nordamerikanischen Vorstadtstraße als ein von einer Prostituierten beherrschtes Gefängnis,[27] weit verzweigte Dachböden mit Advokatenzimmern und Verhörräumen als Grenzerfahrung der menschlichen Existenz und Vorstufe zur Exekution beschrieben.[28] Nicht zuletzt fand die Verwandlung des Gregor Samsa zu einem Ungeziefer im Zimmer von dessen elterlicher Wohnung statt.[29] Auch die Berliner Unterkünfte wurden für Kafka zu Schreckensräumen, aus deren erster eine missgünstige Vermieterin ihn und Dora hinausekelte[30] und deren letzte ihn an einen unterirdischen, labyrinthähnlichen Dachsbau erinnerte, in dem grabende Geräusche ihn in eine Paranoia versetzten.[31]
Musiałczyk fand Wege der Versöhnung. In einem ihrer Gedichte, die in den Jahren von 2001 bis 2014 nach Reisen zwischen Hamburg und Łódź entstanden, erkannte sie, dass der „schatten an der wand / um die tür / vielleicht immer / hier schon gewesen / hat zwei beine / und zwei arme“ in der Nacht verschwand und am Morgen wieder erschien. Die nur bei Tageslicht sichtbare Spukerscheinung war nichts weiter als ein Abbild ihrer selbst: „schatten an der wand / kopf ganz / zerzaust“.[32] In den gleichzeitigen und seither geschaffenen Gemälden der Serie „Stufen“ (2006–19, Abb. 79–83 . , 87 . ) zeigt sie Häuser, die, auf geometrische Grundformen reduziert, mit leuchtenden, geradezu glühenden Farben Sicherheit und Lebensfreude vermitteln. In einem 2015 geführten Interview anlässlich ihrer Ausstellung Szukając formy znajduję anegdotę (dt. Auf der Suche nach Form finde ich die Anekdote) in der Warschauer Galeria Nieformalna bekannte sie: „Die vier Wände sind wichtig – sicher und still. Da hinein drängt sich kein Lärm der Welt.“[33] Mit einem richtigen Zuhause, so sagte sie später, verbinde sie „Sicherheit. Unabhängigkeit. […] Man hat Raum für sich und Ruhe vor den Unruhen der Welt“. Die Suche nach diesem Ort, sei jedoch „oft eine Belastung und ein mühsamer Weg“.[34]
[16] Aus der Reihe „Mieträume“, 1995, Acryl, Stifte, Stempel auf Leinwand, 54 x 65 cm; Aus der Reihe „Mieträume“, 1995, Acryl, Stifte, Stempel auf Leinwand, 40 x 50 cm; Aus der Reihe „Mieträume“, 1997, Acryl, Collage auf Leinwand, 50 x 60 cm; Aus der Reihe „Mieträume“, 1997, Acryl, Collage auf Leinwand, 60 x 80 cm; alle in: Zeichnungen und Bilder 1998 (siehe Anm. 11), Nr. 11–14, 16.
[17] Henri Matisse: Tanz (I), 1909, Öl auf Leinwand, 259,7 x 390,1 cm, Museum of Modern Art, New York.
[18] Vergleiche unter anderem Edvard Munch: Der Tanz des Lebens, 1925, Öl auf Leinwand, 143 x 208 cm, Munch-museet, Oslo.
[19] Zeichnungen und Texte 2001 (siehe Anmerkung 1), Seite 8.
[20] Edvard Munch: Roter, wilder Wein, 1898–1900, Öl auf Leinwand, 119,5 x 121 cm, Munch-museet, Oslo; Abend auf Karl Johan, 1892, Öl auf Leinwand, 84,5 x 121 cm, Bergen Kunstmuseum; Der Sturm, 1893, Öl auf Leinwand, 92 x 131 cm, Museum of Modern Art, New York; Der Tod im Krankenzimmer, ca. 1893, Tempera und Farbstifte auf Leinwand, 152,5 x 169,5 cm, Nationalmuseum Oslo; Eifersucht, 1907, Öl auf Leinwand, 57,5 x 84,5 cm, Munch-museet, Oslo.
[21] René Magritte: Das Reich der Lichter (L'empire des lumières), 1954, Öl auf Leinwand, 146 x 114 cm, Musées royaux des Beaux-Arts de Belgique, Brüssel; Der Schlüssel der Felder (La Clef des champs), 1936, Öl auf Leinwand, 80 x 60 cm, Museo Nacional Thyssen-Bornemisza, Madrid.
[22] Paul Delvaux: Dämmerung über der Stadt (L’aube sur la ville), 1940, Öl auf Leinwand, 175 x 202 cm, Belfius Art Collection, Brüssel.
[23] René Magritte: Time Transfixed (La Durée poignardée), 1938, Öl auf Leinwand, The Art Institute of Chicago.
[24] Giorgio de Chirico: Geheimnis und Melancholie einer Straße (Mistero e malinconia di una strada), 1914, Öl auf Leinwand, 87 x 71,5 cm, Privatsammlung.
[25] Evelyn Preuß: Aus Wiesen schauen Gesichter. Janina Musiałczyks Bilder behandeln Seelenzustände, in: Hamburger Abendblatt vom 19.5.1988.
[26] Wolfgang Till Busse: Ungebeten. Agata Schubert-Hauck & Janina Musiałczyk, Eröffnungsrede in der Galerie Kunstraub99, Köln, am 14.1.2016.
[27] Franz Kafka: Amerika – Ein Asyl, 1911–14.
[28] Franz Kafka: Der Prozess, 1914/15.
[29] Franz Kafka: Die Verwandlung, 1912.
[30] Franz Kafka: Eine kleine Frau, 1923.
[31] Franz Kafka: Der Bau, 1923.
[32] schatten an der wand ..., 5. April 2006, in Janina Musiałczyk: w drodze_unterwegs (W DRODZE_trzy zeszyty – UNTERWEGS_drei hefte, Heft 2), Selbstverlag, Hamburg 2015.
[33] Porysować cały świat (dt. Die ganze Welt zeichnen), Janina Musiałczyk im Gespräch mit Stanisław Gieżyński, in: Weranda. Najpiekniejsze polskie domy, rezydencje, ogrody i sztuka, Nr. 11/155, November 2015, Seite 50.
[34] Gespräch anlässlich eines Besuchs der Modedesignerin und freien Redakteurin Larissa Wasserziehr. Vergleiche „Zu Besuch bei Künstlerin Janina Musialczyk“, 12. Mai 2019, auf https://derblauedistelfink.de/zu-besuch-bei-kuenstlerin-janina-musialczyk/ (zuletzt aufgerufen am 25.10.2023).