Janina Musiałczyk. W drodze, unterwegs
Mediathek Sorted
Orientierungslos stehen Menschen zwischen „Grenzen“ und „Landschaften“. Sie blicken um sich und verlieren ihr Gesicht (1988, Abb. 22 . ), treten zweifelnd vor erdiger Kulisse aus sich heraus (Abb. 70 . ) oder verharren einsam eingezwängt zwischen riesigen Felsen (Abb. 71 . ). Als getrenntes Liebespaar, beide mit ihrem Teil einer übermächtigen, nächtlich verlassenen Stadtlandschaft verbunden, können sie nicht mehr zueinanderfinden (alle 1988/89, Abb. 72 . ). „Ich lege meinen kopf / in das herz hinein / sehe alles“, schreibt Musiałczyk später, „ich sehe / ich sehe und sehe / […] sehe und weine / … / ich laufe weiter / schmale wege / fremde orte“.[58] Ihre Landschaften, jenseits von Grenzen, gestaltet und geteilt in „hier und dort“, sind Orte klaren Sehens und heller Erkenntnis, in denen die Künstlerin dennoch unentrinnbar tief verwurzelt und eingegraben ist.
Seelenzustände in Elementen der Landschaft zu verschlüsseln, hat in der polnischen Malerei eine lange Tradition. In der Kunst des Jungen Polen (Młoda Polska), einer heterogenen künstlerischen Bewegung in den Jahren um 1900, die auf europäischer Ebene am ehesten mit dem Symbolismus vergleichbar ist,[59] spürten die bedeutendsten polnischen Kunstschaffenden in „symbolischen Landschaften, in denen jedem einzelnen Element eine Bedeutung zukam“,[60] ihren eigenen psychischen Stimmungen nach. Bei Jan Stanisławski beispielsweise symbolisierten Wasser und Wolken die Vergänglichkeit, vom Wind bewegte Pappeln die Kräfte der Natur,[61] das Erdreich die Beständigkeit. Ferdynand Ruszczyc veranschaulichte in seinem Gemälde „Die Erde“[62] „die uralte Macht und Unbezwinglichkeit der Natur, die den Menschen in die Schranken weist“.[63] Ein Kritiker erkannte in dem Bild „die Seele des Künstlers“, die „in einer starken, geruhsamen Stimmung der Seele der Natur Ausdruck verlieh“.[64] Wojciech Weiss, der sich für Munch und dessen Freund, den Schriftsteller Stanisław Przybyszewski, begeisterte, symbolisierte mit der ersterbenden Natur des Herbstes Vergänglichkeit und Tod, um nur einige Beispiele zu nennen.
Die meisten der Landschaften des Jungen Polen sind menschenleer, im Unterschied zu denen des europäischen Symbolismus, etwa von Hodler, Böcklin, Kupka, Puvis de Chavannes, Segantini, Klinger und Munch, in denen die menschliche Figur weitere Bedeutungsebenen eröffnet. Fijałkowski wiederum entwickelte sechs Jahrzehnte später aus der Abstraktion heraus leere Landschaften, die den Betrachtenden die Projektion eigener Phantasien und Gemütszustände ermöglichen. Vor diesem weit gespannten Hintergrund erschuf Musiałczyk mit Mitteln der figürlichen Abstraktion ein Zwischenreich, in dem die Landschaft der menschlichen Gestalt einen dramatischen, aber vorübergehenden Zustand der Seele gewährt.
[58] ich lege meinen kopf …, geschrieben im September 2002, in: w drodze_unterwegs 2015 (siehe Anmerkung 32).
[59] Vergleiche auf diesem Portal Axel Feuß: Waren sie wirklich „Rebellen“? Zur Münchner Ausstellung „Stille Rebellen. Polnischer Symbolismus um 1900“, https://www.porta-polonica.de/de/atlas-der-erinnerungsorte/waren-sie-wirklich-rebellen-zur-muenchner-ausstellung-stille-rebellen.
[60] Urszula Kozakowska-Zaucha: Landschaften der Trauer und der Hoffnung. Naturdarstellungen in der Malerei des Jungen Polen, in: Stille Rebellen. Polnischer Symbolismus um 1900, Ausstellungskatalog Kunsthalle München, München 2022, Seite 81.
[61] Jan Stanisławski: Topole nad wodą (dt. Pappeln am Wasser), 1900, Öl auf Leinwand, 145,5 x 80,5 cm, Nationalmuseum Krakau/Muzeum Narodowe w Krakowie.
[62] Ferdynand Ruszczyc: Ziemia (dt. Die Erde), 1898, Öl auf Leinwand 171x219 cm, Nationalmuseum Warschau/Muzeum Narodowe w Warszawie.
[63] Kozakowska-Zaucha 2022 (siehe Anm. 60), Seite 79.
[64] Ebenda, Seite 79 f.