Janina Musiałczyk. W drodze, unterwegs
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Anfänglich, zu Beginn der 2000er Jahre, war die Künstlerin während ihrer Reisen zwischen Hamburg und Łódź, auf denen Dutzende von Fotografien aus dem fahrenden Zug heraus für neue Künstlerbücher entstanden, noch ungeduldig: „renne zu dir / renne und renne / bäume flackern vorbei / […] räder pochen / fluren wälder / städte städtchen / renne und renne“.[76] Ein Jahrzehnt später erwies sich die Angst, nicht nur wichtige Reiseutensilien, sondern auf einer dieser Reisen auch die Erinnerungen verloren zu haben, lediglich als böser Traum, verbunden mit der Gewissheit, dass doch nicht alles abhandengekommen war: „traum von verlorenem koffer / von vergessenen schätzen / vom wandern auf schlammigem weg / vom suchen entlegener orte / […] wo einst ich schon war / wo mein gepäck harrt“.[77]
In den Jahren 2000 bis 2007 schuf Musiałczyk unter dem gemeinsamen Titel „Episoden“ (Abb. 88–92 . ) mehrere Folgen kleinformatiger farbiger Bildergeschichten, in denen sie seelische Verstrickungen Einzelner, Beziehungen zwischen Paaren und auch einmal Dreiergeschichten schilderte. An jedem Tag, schrieb sie 2005, sei ein kleines Bild entstanden, dem Wunsch entsprechend, „einzelne Szenen dem Lauf der Ereignisse und der Gleichförmigkeit, in der sie untergehen, zu entreißen.“[78] Geschult in der Analyse psychischer Befindlichkeiten, widmete sie sich nun mit genauer Beobachtung und im Stil der Bildsatire menschlichem Umgang und Handlungsweisen, wie sie überall im Alltag zu finden sind. Überzeichnend und niemals bierernst reduziert sie Figuren auf ein Körperteil, begrenzt Paare auf einen Umriss und erweitert Gliedmaßen auf die Klammerfunktion um deutlich zu machen, dass jeder mit jedem verbunden ist und nur im Ausnahmefall einer für sich allein existiert. Piotr eL schrieb: „In ihren Arbeiten finde ich etwas, das erschreckt, was aber auch diskret lindert: Janina sieht schmerzend scharf, was beschämt und betrübt, doch wird diese Schärfe gemildert durch die Herzlichkeit und Wärme ihres Blicks auf die privaten kleinen Dramen, die das Leben eines und einer jeden von uns formen.“[79]
Unter dem Eindruck der Migrationskrise zwischen Belarus und der Europäischen Union im August 2021, während der Flüchtlinge unter anderem aus Afghanistan und dem Irak wochenlang im Grenzgebiet zwischen Belarus und Polen festgehalten wurden und zehn Migranten starben, begann Musiałczyk auch mit Rückbezug auf ihre eigene Fluchtgeschichte unter dem Arbeitstitel „Flucht – Zuflucht“ eine neue Serie von Zeichnungen und Gemälden. Mit dem Plan, den kontinuierlich aktualisierten Bildern in den öffentlichen und sozialen Medien „mit traditionellen Techniken und kleinen Formaten […] einem ganz anderen Zeugnis Raum zu geben – gleichsam Zuflucht zu gewähren – dem stillen, intimen, nicht diskursgeprägten Ausdruck“,[80] schuf sie auf dunkel vorgefärbten Papieren Arbeiten mit farbigen Zeichentuschen, weißer und schwarzer Ausziehtusche, Holzfeder, Bunt-, Filz- und Lackstiften und kombinierte sie mit Monotypie und der schon früher verwendeten Stempeltechnik. Acrylbilder entstanden auf dunkel vorgefärbten Leinwänden und getöntem Papier. Für die anschließende Herstellung eines Künstlerbuchs aus einigen dieser Arbeiten mit dem Titel „Seh nicht, also ist nicht / Nie widzę, więc nie ma“ erhielt die Künstlerin noch im selben Jahr eines der von der Hamburger Kulturbehörde in Zusammenarbeit mit der Hamburgischen Kulturstiftung und dem BBK Hamburg vergebenen „Hamburger Zukunftsstipendien für Bildende Kunst und Literatur“.
Die ausklappbaren Doppelseiten des 2022 erschienenen Künstlerbuchs zeigen Menschen, die sich durch tiefe Wälder schlagen, durch Unterholz und Grasland vorwärtsdringen, vor Zäunen stehen und um Hilfe schreien und schließlich aus dem Dunkel hervortreten (Abb. 93–99 . ). Doch auch ihre Situation ist nicht hoffnungslos, denn einzelne von ihnen schreiten zuletzt, am Schluss des Buches, in ein lichtes Blau. Piotr eL resümierte: „ … welch ein ungeheuer schmerzender Schrei. […] … die sublimierte Hypostase einer drastischen Beobachtung, also das, worum es der Kunst auch gehen kann.“[81]
Der Titel dieses vorerst letzten Buches der Künstlerin, „Nie widzę, więc nie ma / Seh nicht, also ist nicht“,[82] in dem Sehschlitze zwischen den eingeklappten Doppelseiten wie durch einen Türspalt Einblicke auf das dahinter vor sich gehende Drama ermöglichen, könnte als Motto über dem Gesamtwerk von Janina Musiałczyk stehen: Geschehnisse können nur dann vor der Wirklichkeit bestehen, wenn man die Augen nicht vor ihnen verschließt. Nur das, was sichtbar gemacht wird, und sei es durch Kunst, existiert. Jenes, wovor wir die Augen verschließen, fällt dem Vergessen anheim.
Axel Feuß, Oktober 2023
[76] renne zu dir, oktober 2004/2, in: w drodze_unterwegs 2015 (siehe Anmerkung 32).
[77] traum von verlorenem koffer, 17. November 2013, ebenda.
[78] Janina Musiałczyk: Episoden, Eigenverlag, Hamburg 2005.
[79] Piotr eL anlässlich der Ausstellung Janina Musiałczyk. Szukajac formy znajduję anegdotę (dt. Auf der Suche nach Form finde ich die Anekdote), Galeria Nieformalna, Warschau, 20.8.2015 (Übersetzung aus dem Polnischen: F.L./Z.M.).
[80] Aus dem Verwendungsbericht von Janina Musiałczyk für das „Hamburger Zukunftsstipendium für Bildende Kunst und Literatur“, März 2022.
[81] Piotr eL (Częstochowa) in einem Brief an Janina Musiałczyk vom 27. August 2022.
[82] Janina Musiałczyk: Seh nicht, also ist nicht. / Nie widzę, więc nie ma., Buchkonzeption und Typographie: Iga Bielejec, Eigenverlag, Hamburg 2022.