Janina Musiałczyk. W drodze, unterwegs
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1978, Janina Musiałczyk war seit elf Jahren Leiterin der Kunstgruppe im Palast der Jugend (Pałac Młodzieży), bezogen sie eine große Eigentumswohnung in der neu errichteten Hochhaussiedlung Zgierska Stefana im Stadtteil Stare Bałuty am nördlichen Stadtrand von Łódź. „In meinem Arbeitszimmer“, schreibt sie, „steht ein riesiger Webstuhl. Über ihm bunte, in der Badewanne gefärbte Schafswolle. Stundenlang webe ich Gobelins mit Malven, Bäumen und Landschaften. Für den Verkauf. […] Hinter dem Fenster riesige Hochhäuser. Leuchtende Fenster, Fensterreihen. Eine rhythmische Komposition. An dem runden kleinen Strohteppich sitzen wir auf dem Fußboden. Ich und meine engsten Schüler. Wir trinken Cocktails aus hohen Gläsern. Die Zeit langer Gespräche.“[7]
Drei Jahre später ging auch diese Zeit zu Ende. Unter dem Druck der politischen Verhältnisse verließ die Familie Polen. Am 27. Mai 1981, erinnert sich Musiałczyk, „gehen wir mit drei kleinen Koffern und drei Regenschirmen aus der Wohnung. Staszek, Zuzia und ich.“[8] Über Malmö, wo die Familie zwei Monate lang bei Bekannten und einem polnischen Emigranten wohnte, erreichte sie schließlich am 21. Juli 1981 Hamburg. Es folgte eine erneute Odyssee, die während des kommenden Vierteljahrs durch drei Hotels und das Zimmer einer Wohngemeinschaft führte. Anfang Oktober waren sie schließlich in der Hochhaussiedlung in Hamburg-Steilshoop angekommen.
Zwei Jahre später, im Frühjahr 1983 wohnten sie weiterhin in derselben Siedlung, allerdings in einem anderen Haus: „Vierter Stock, drei Zimmer, ein Balkon, Teppichboden vom Vormieter, beige, schmutzig. Die Möbel im Schlafzimmer auch von ihm. Ein weißer riesiger Wandschrank. […] An den Wänden hänge ich Zeichnungen auf, immer mehr schauende Steine.“[9]
Über eine Zwischenstation in Hamburg-Farmsen fand die Familie schließlich im Herbst 1987 in Hamburg-Volksdorf ihre endgültige Bleibe: „Die Wände tapezieren wir und streichen sie weiß an. Ich hänge Bilder auf. Die Bilder werden mehr und mehr. […] Im Frühling frühstücken wir auf dem Balkon … Wir empfangen Gäste, auf dem Tisch steht eine Mokkatorte […] In meinem Zimmer an dem großen Holztisch zeichne ich mit schwarzer Tusche die Wanderungen. An der Wand eine Fotozeichnung von Piotrek mit dem riesigen schwarzen Stein, der Engel von Fijałkowski […] Ich sehe zum Fenster hinaus, an dem Zaun huscht eine Ratte vorbei. Ich rufe das Ortsamt an. ‚Es sind Wanderratten, sie ziehen von Stadt zu Stadt.‘“[10]
Den Innenräumen ihrer Lebensgeschichte stellte Musiałczyk auf den rechten Seiten ihres Buches das äußere Geschehen in Form einer Bilderstrecke aus mit schwarzer Tusche gestempelten Grafiken gegenüber. Hunderte von wandernden, vornüber gebeugten Personen formen sich zu anfänglich geordneten und dann wieder zerfallenden, wogenden oder marschierenden Menschenmassen in mehr oder minder geordneten Reihen oder diffusen Gruppen, aus denen einzelne oder auch mehrere Figuren herausstürzen, übereinander fallen, sich in einer kreisförmigen Mitte vereinzeln, seitlich aus der Menge heraustreten oder sich wieder in sie zurückbewegen. Alle gleich, erhalten sie doch eine gewisse Persönlichkeit durch den unterschiedlichen Farbauftrag, der, anfänglich satter, sich beim fortlaufenden Stempeln verliert. Die Tafeln stammen aus der im Jahr 2000 geschaffenen Serie „Fortgang, Exodus“ (Abb. 45–48 . ), welche die persönlichen Erlebnisse des Weggangs aus Polen auf die allgemeine Ebene von Fluchtbewegungen hebt. Aus der Masse herausgetreten, findet sich schließlich der Mensch im Kampf mit sich selbst (Abb. 49 . ).
[7] Ebenda, Seite 20.
[8] Ebenda.
[9] Ebenda, Seite 38.
[10] Ebenda, Seite 42.