Momente dessen, was wir Geschichte und Momente dessen, was wir Gedächtnis nennen
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Eine so verstandene Erinnerung an die Täter geht über das explizite Narrativ der Lagererfahrung hinaus, wobei sie die Einmaligkeit und die Schrecken dieser Erfahrung keineswegs mindert. Sie gibt Hinweise auf etwas Anderes, was die Voraussetzung betrifft. Auf etwas, was man auch in sich selber sowie in den Strukturen der eigenen Welt aufsuchen kann und sollte. Dabei scheint es so zu sein, dass nur die Verknüpfung empathischer Erinnerung an das Opfer mit der kognitiven Erinnerung an den Täter beziehungsweise an die gesellschaftlichen und mentalen Strukturen, die ihn bedingen, eine wirksame formative Erkenntnis ermöglicht, die sich so sehr von der Stammesperspektive, auch wenn diese auf ihre Art ebenfalls wirksam und formativ ist, unterscheidet.
Kann es aber bei alledem sein, dass das Gedächtnis mit der Zeit und mit dem Erwachsenwerden der Urenkel der Zeitzeugen versteinert und museal-gelehrte Formen annimmt, die keine persönlichen Bezüge mehr besitzen? Eine Form, die nicht mehr beschäftigt als die blutigen Exzesse assyrischen Monarchen, die Grausamkeiten Tamerlans oder die Organisationsstruktur der Zuchthäuser auf den Latifundien der Römischen Republik? Sachsenhausen? Ja, das ist der Ort, den Reiseführer als „interessanten Ort in der Nähe Berlins“ bezeichnen, den sie für einen Tagesausflug empfehlen. Richtig ist wohl, dass dieser Ort drastische, blutige Geschichten dokumentiert und starke Emotionen weckt, die einfache Reflexionen über die Schattenseiten der menschlichen Natur auslösen, doch insgesamt ist er zu seltsam und dem Alltag zu sehr entrückt, um solche Gedanken als eine sinnvolle Erzählung über sich selbst und über die eigene Welt anerkennen zu können. Vielleicht sind die schablonenhaften Schlussfolgerungen der Nutzer und Rezensenten der Reiseportale, der hastigen Konsumenten touristischer Attraktionen oder derer, die große Gefühle erleben wollen, Beweise dafür? Es lohnt sich, für bequemes Schuhwerk und für einen Regenschirm zu sorgen, falls es regnen sollte, und sich gleich die Liste der empfohlenen Restaurants in der Nähe anzuschauen, da der Mensch nach einer mehrstündigen Besichtigung bekanntlich hungrig wird...
Dies alles verkörpert die Vision einer jugendlichen Rebellion eines meiner Schulfreunde, der unter der Last der Lagerliteratur auf den Lektürelisten zu bedenken gab: sie warnen uns, indem wir uns an diese Schrecken erinnern. Aber wäre es nicht vielleicht besser, sie zu vergessen? Und wenn Menschen künftig noch einmal in den Sinn kommen sollte, ähnliche Dinge zu tun, werden sie möglicherweise sie als zu innovativ, als zu avantgardistisch empfinden? Damals war die Frage nicht ganz ohne Sinn, aber nach so vielen Jahren, gerade heute, im Kontext der fotografischen Erzählung von Marian Stefanowski, sehe ich mich gezwungen, sie zu verneinen. Sowohl in der Erfindung immer neuer Formen der Versklavung, der Erniedrigung, der Ausbeutung und der Tötung als auch in der systematischen Rechtfertigung solcher Dinge zeichnet sich die Menschheit durch einen Erfindungsreichtum aus, den keine Tradition beschränkt, und wenn er doch einmal behindert wird, dann sind es meist technologische Hürden. Aus diesem Grund und nicht in Folge moralischen Verfalls, hat die Intensität des Schreckens in der Neuzeit ihren Höhepunkt erreicht. Auch wenn es keine Belege dafür gibt, dass frühere kollektive Erfahrungen eine Gemeinschaft jemals davon abgehalten haben, Verbrechen zu begehen, plädiere ich ganz entschieden für eine wachsame, sensible, empathische und engagierte Pflege der Erinnerung. Auf etwas muss man doch setzen. Das ist für jeden von uns letztlich eine moralische Entscheidung.