Momente dessen, was wir Geschichte und Momente dessen, was wir Gedächtnis nennen
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Wir und Sie. Sie uns – wir Ihnen. Eine Matrix wechselseitiger Beziehungen und simpler Abstraktionen, die scheinbar in die Historie eingebettet ist, aus der sie ihre Legitimität schöpft, während sie tatsächlich in der Gestalt eines zeitlosen Mythos begegnet, der den Mechanismus weiterer Zitate, Wiederholungen und Rekonstruktionen treibt. Eine nützliche Sache, vor allem, um die Identität und den Zusammenhalt der eigenen Gruppe aufzubauen, allerdings auf Kosten der Gesamtperspektive. Wir Ihnen – Sie uns. Eine ständig offen bleibende Rechnung − in der dritten, vierten und in jeder weiteren Generation. Sie die Bösen – wir die Guten. Diese Form des Gedächtnisses hat eine lange Tradition, ist eigentlich schon seit jeher präsent, also auch dann, als das Gedächtnis die Erfahrung der Schrecken des Totalitarismus im 20. Jahrhundert betraf. Je weiter wir uns von den Geschehnissen entfernen, um so mehr nimmt dieses Gedächtnis im offiziellen Narrativ, das gerne bedient wird, Oberhand. Darin steckt eine gewisse Zwangsläufigkeit. Die Generation der unmittelbaren Zeugen wurde von der Sensibilisierung für Kriegserfahrungen als tragischer und traumatischer Untergang der Menschheit, von ihrer Selbstwahrnehmung sowie von den Mythen und Illusionen über den Fortschritt, die Menschlichkeit und die moralische Entwicklung stark geprägt. Das Grauen des Krieges war für jeden dieser Menschen eine Niederlage und eine Verpflichtung. Die über die Grenzen der Stammesidentitäten hinausgehende Perspektive ließ sich nicht mehr so leicht leugnen. Heute, wo fast alle Zeugen verstorben sind und die Erinnerung weniger das Produkt eigener Erfahrungen als ein intellektuelles Konstrukt ist, hat sich das Klima geändert. Militärische Motive beherrschen die Litanei offiziell geförderter Muster. Kämpfen um des Kämpfens Willen, völlig aus dem militärischen, politischen und gesellschaftlichen Kontext gerissen, wird zur erhabensten Manifestation von Patriotismus, und wieder ist es süß, für das Vaterland zu sterben. Der Krieg als solcher, oder präziser gesagt, kollektive organisierte Gewalt ist kein Ausdruck tragischen Rückschritts der Menschheit mehr, sondern wird erneut zu einem öffentlich diskutierten, legitimierten Instrument von Politik sowie zur Betreibung gemeinschaftlicher Interessen, die moralisch natürlich gerechtfertigt sind. Aber gibt es überhaupt andere? Und zeigt sich diese Akzentverschiebung nicht deutlich und symbolisch, wenn der jetzige Direktor des Danziger Museums des Zweiten Weltkriegs (Muzeum II Wojny Światowej) in der Debatte um eine neue Ausstellungsformel fordert, die „positiven Aspekte des Krieges“ in das didaktische Programm aufzunehmen? Signum temporis.
Dieses Narrativ enthält selbstverständlich nicht die positiven Aspekte der Konzentrationslager oder der Lagererlebnisse, doch angesichts des scheinbaren Feindes werden Letztere oft und gerne instrumentalisiert, und zwar im Sinne von Ad-hoc-Politik sowie um die Disziplin und gesellschaftliche Identität aufzubauen; das Narrativ wird kanalisiert und in die Stammesschemata eingepasst. Und nun lese ich die Berichte regierungsnaher Medien über den Besuch des amtierenden Präsidenten unseres Landes in Sachsenhausen, wo er Blumen an der Gedenktafel für polnische Gelehrte niederlegte, die hier im Rahmen der sogenannten „Sonderaktion Krakau“ inhaftiert worden waren. Sofern man den Zusammenfassungen Glauben schenken darf, ging das Narrativ der zu diesem Anlass gehaltenen Rede nicht über die erwähnten nationalen Kategorien hinaus.