Momente dessen, was wir Geschichte und Momente dessen, was wir Gedächtnis nennen
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Wer waren sie? Was hat sie zu ihren Taten motiviert? Was wollten sie erreichen? Mit welchem Wertesystem wollten sie ihre Taten rationalisieren? Ein solches Gedächtnis, das nichts entschuldigt, sondern sich nur nicht mit ebenso plausiblen wie einfachen moralischen Urteilen abfinden will, und statt dessen bemüht ist, in den Tätern Menschen wie wir zu sehen, die denselben psycho-sozialen Mechanismen unterliegen, kann inneren Widerstand provozieren. Es bietet aber die Gelegenheit, das Geschehene zu verstehen und so eine Art Aufmerksamkeit, also gewissermaßen einen kognitiven und moralischen Filter in uns zu setzen, der es uns erlaubt, die Gefahren in unserer eigenen, vertrauten und allzu offensichtlichen Welt wirklich zu erkennen. Diese Überzeugung ergibt sich daraus, dass für die Entstehung eines Unterdrückungssystems, das sich in der Opposition von Opfer und Täter zeigt, die Haltung und die Handlung des Täters von oberster, ja, von konstitutiver Bedeutung sind. In der Regel wählt ja das Opfer seine Rolle nicht selbst: Das Opfer wird ausgewählt. Dass also der Rahmen der Situation von einem anderen bestimmt wird, engt den Handlungsspielraum des Opfers dramatisch ein. Dabei denke ich hier nicht mal an die Lagersadisten, die ihre angewandte Gewalt einfach nur genießen. Sie sind das letzte Glied in einer langen Kette. Mich interessiert viel mehr die chronologisch und vor allem die logisch frühere Phase: Welche systematischen Vorstellungen im Hinblick auf die Organisation einer Gesellschaft, welche Menschenbilder, welche begrifflichen Raster waren in der Lage, diesen Punkt herbeizuführen? Welche Begründungen, welche Rationalisierungen, welche Abwehrmechanismen? Gelten für manche nicht Konzepte zum Schutz der Gesellschaft vor Gefahren für ihren kulturellen, ethnischen und religiösen Zusammenhalt oder für ihr Identitätskonstrukt immer noch als scheinbar rational?! Ebenso Forderungen, bei asozialen Elementen, die gegen allgemeine Normen verstoßen, korrigierend zu intervenieren? Oder die wie auch immer definierten Ränder der Gesellschaft zu resozialisieren? Und was ist mit repressiven Maßnahmen als Erziehungsmethode auf jeder gesellschaftlichen Ebene? Wie verhält es sich mit Hierarchien und mit der Disziplin als unbestrittene Werte und Bindeglieder menschlicher Gruppen? Fällt die Instrumentalisierung Dritter als menschliche Ressource zur Durchsetzung von Werten, die eine Gruppe favorisiert, hier heraus? Oder die Unterordnung des Rechts des Einzelnen auf selbstbestimmtes Leben, angefangen mit der Definition der zulässigen Lebensentscheidungen bis hin zum buchstäblichen Recht aufs Überleben, das von der Erfüllung willkürlich festgelegter Voraussetzungen abhängig sein soll? All diese klischeehaften Konzepte, diese banalen Manifestationen alltäglicher Dominanz und Gewalt, lassen sich bis zu einem gewissen Grad noch verteidigen. Zumindest finden sie ihre Verteidiger. Sie müssen nicht in totalitären Horror münden, doch sie können es. Mehr noch: sie sind der Humus, aus dem der Horror entsteht. Wo also ist die Grenze?