Momente dessen, was wir Geschichte und Momente dessen, was wir Gedächtnis nennen
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Warum kommen die Menschen hierher? Was suchen sie? Was nehmen sie mit nach Hause? Vielleicht eine prägende Erfahrung? Gelehrtes Wissen? Tief gehende Erlebnisse? Vielleicht ein Schuldgefühl? Ein Gefühl von Unrecht? Aber von welcher Schuld beziehungsweise von welchem Unrecht ist hier die Rede, wenn sie an den Schrecken der Vergangenheit an diesem Ort nicht selbst beteiligt waren? Nehmen sie überhaupt etwas Nachhaltiges mit? Das wissen wir nicht... Und trotzdem kommen sie hierher. Die Besucherstatistiken sind beeindruckend ebenso wie die Bewertungen auf den Reiseportalen. Auf Google Maps erreicht die durchschnittliche Bewertung 4,6 von 5 Sternchen, auf Trip Advisor 4,8 von 5, wobei die Zahl der Beurteilungen in die Tausende geht. Hinzu kommen hunderte von Kommentaren, aber auch sie liefern keine Antwort. Sie zeigen immer dieselben, sich wie ein Mantra wiederholende Phrasen: ein bewegendes, tief bewegendes, schmerzhaftes Erlebnis... Also doch eine harte emotionale Erfahrung.
Diese schwierigen Gefühle resultieren wahrscheinlich aus der Begegnung mit den Objekten der Ausstellung und mit den entsprechenden Erläuterungen der Ausstellungsführer, deren Kompetenz und profundes Wissen von den Besuchern hervorgehoben werden, die anschließend bruchlos zu den praktischen Hinweisen über angemessene Kleidung und Schuhwerk, Regenschirme und Proviant übergehen. Das Fazit ist grundsätzlich eine Übereinstimmung mit dem Ort, der einen Besuch wert ist, oder deutlicher gesagt, den man unbedingt gesehen haben muss. Aber warum? Um ein wenig von der schwierigen Verarbeitung zu erleben? Nein, es liegt mir fern, Erlebnisse und Emotionen zu ignorieren, aber… In der Fläche, die vom Objektiv des Fotografen erfasst wurde, ist dies nicht so offenbar. Wie ich bereits erwähnt habe, braucht der Betrachter eine gewisse Dosis eigenen Vorwissens und sehr viel Vorstellungskraft. Dabei kommt es manchmal zu dem banalen Resümee: „Dieser Ort zeigt, wie dünn die zivilisatorische Schicht über den primitiven Urinstinkte der Menschheit ist“. Dies klingt schon ein wenig besser, doch der Skeptiker in mir zweifelt immer noch: Sollte dies die Schlussfolgerung im Hinblick auf diesen Ort sein? Was wären dann die Konsequenzen? Verteidigung der Zivilisation? Fragt sich nur, was wir da verteidigen wollen? Mit welchen Mitteln? Gegen wen? Sicher gegen die Welt der Urinstinkte. Und wo sollte diese Welt sein? In uns oder in den anderen? Und wenn in den anderen, welches Kriterium der Andersartigkeit sollte hier gelten? Immerhin haben auch die Nazis die Zivilisation verteidigt, und zwar so, wie sie sie verstanden haben und zwar vor denen, die ihres Erachtens eine Gefahr für sie waren, indem sie Mittel eingesetzt haben, die sie für nötig hielten. In allen diesen drei Punkten – darüber besteht heute Konsens – gingen sie von falschen Annahmen aus, wobei sie sich in innere Widersprüche verfingen und sich in Verbrechen stürzten. Wo also liegen die Grenzen der zulässigen neuen Deutungen? Und wie sollten wir wissen, dass unsere Erkenntnisse weniger falsch wären und uns nicht zu Verbrechen oder zumindest zu Missbrauch verleiteten? Und zu guter Letzt: Nimmt das von uns konstruierte Gedächtnis an die Lagererfahrungen, an die Metonymie eines totalitären Systems mit all seinen Folgen, irgendeinen Einfluss darauf?
Das Gedächtnis, von dem ich schreibe, ist für mich ein dynamischer Komplex aus Vorstellungen über die Vergangenheit, dessen Funktion es ist, aktuelle und vergangene Erfahrungen als etwas Lebendiges und Bedeutsames zu organisieren. Ich schreibe auch über das konstruierte Gedächtnis, denn die Vorstellungen über die Vergangenheit, die auf Quellen und Berichten beruhen, gefiltert und ausgelegt unter Berücksichtigung früher erworbenen allgemeinen Wissens sowie des Wertesystems der Menschen, die sich damit befassen, sind nicht authentisch und können es übrigens auch gar nicht sein. Das Vernichtungslager Sachsenhausen als charakteristische Quelle historischer Erkenntnis kann durchaus zu diversen Interpretationen provozieren und sich in alternative Formen der Erinnerung fügen, die verschiedene Schlüsse, Haltungen und Sensibilitäten zulassen. Mangels zuverlässiger Daten kann ich die möglichen Beweggründe an dieser Stelle nur schematisch skizzieren.
So verfügen wir vor allem über das Stammesgedächtnis, das nach kollektiven verdinglichten Kategorien organisiert ist, die sich wiederum in einfache Oppositionen sowie Logiken symbolischer Identitäten gliedern.