Momente dessen, was wir Geschichte und Momente dessen, was wir Gedächtnis nennen
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Die Deutschen als Verfolger – wir als Opfer. Weitere Kategorien zur Beschreibung fehlen. Damit will ich nicht sagen, dass dieses Bild nicht der Wirklichkeit entspricht. Vielmehr geht es mir darum, dass die nur darauf reduzierte Erfahrung Sachsenhausen zu einer nur noch partiellen, fehlerhaften Erinnerung wird, während die nationalen Verallgemeinerungen, die nichts weiter erklären noch etwas präzisieren, ein kognitiv zweifelhaftes Bild der Wirklichkeit erzeugen. Dies ist besonders im Kontext des Ortes spürbar, an dem solche Reden gehalten werden: die ersten Gefangenen des nationalsozialistischen Regimes, die der kollektiven Stigmatisierung, der Ausgrenzung und Repressalien ausgesetzt waren, waren schließlich deutscher Nationalität. Innere Fremde, die eine Gefahr für die Chimäre der nationalen Einheit und der nationalen Ziele waren und die beispielhaft für spätere Kriege gegen äußere Fremde litten. Diesen Mechanismus zu verstehen und die Unangemessenheit homogener, nationaler Verallgemeinerungen aufzuzeigen, ist jedoch zweitrangig. Ja, man könnte sogar sagen, dass das Narrativ des Präsidenten in dieser Hinsicht paradoxerweise und sicher unbewusst mit der offiziellen Position des NS-Regimes konform geht, das „Andersartige“ beziehungsweise „asoziale Elemente“ aus dem „wahren“ Deutschtum ausgeschlossen hat. Das ist die Logik und das ist der Preis der Mythen von Stammesidentitäten sowie der um sie herum organisierten Stammesgedächtnisse.
Einen Gegenpol zu diesen Auffassungen bildet das Gedächtnis, das man universell nennen könnte, das all jene kollektiven Kategorien, die in der oben skizzierten Beschreibung so wichtig sind, bewusst ignoriert, zumindest aber in den Hintergrund drängt. Die rein personale Situation, die hier auf ein durch den Akt der Gewalt geprägtes binäres System von Verfolger und Opfer reduziert wird, ist ein Modell, in dem sich die konkrete Opposition zwangsläufig aus der Zugehörigkeit zur jeweiligen kollektiven Gruppe ergibt bzw. jedenfalls ergeben kann. Die Kategorien selbst sind akzidentell und resultieren aus den konkreten historischen Umständen. Die Erforschung dieser Umstände ist sowohl im Hinblick auf die Erklärung der Ereignisse als auch auf die Deutung, sofern sie überhaupt möglich ist, der großen Mechanik, die in die Tragödie führt, zu priorisieren. Dabei hat man mit Variablen zu tun, die das Verständnis der Umstände als solche nicht erlauben. In eine bedrückende Lage kann jeder geraten, und zwar ungeachtet seiner gesellschaftlichen Rolle, des Ortes und der Zeit. Dieses generelle Moment hat eine wichtige moralische und kognitive Dimension. In dieser Variante des Erinnerns ist es gewiss leichter, die Opferperspektive einzunehmen. Das ist intuitiv ein moralischer oder sogar ein emotionaler Reflex. Die vorherrschenden Formen dieser Art von Gedächtnis konzentrieren sich daher auf die Opfer, auf die Enthüllung, die Bezeichnung und die Rekonstruktion der Erinnerung an sie, auf den rituellen Respekt für sie und auf den Versuch, jede Lebenslinie, die durch die Verfolgung erschüttert wurde, zu rekonstruieren. Die Pietät derer, die sich dieser Rekonstruktion annehmen, ist schon an sich ethisch wertvoll, weil edel in der Gesinnung. Ist sie von Empathie und Mitgefühl erfüllt, die wiederum zu einer Sensibilisierung für alle mehr oder weniger drastischen Manifestationen von Repression, Erniedrigung und Unterdrückung führen, umso besser.
Wenn wir aber nicht nur auf die geschehene Unterdrückung reagieren, sondern auch ihre Gefahren und ihre verschiedenen Erscheinungsformen richtig erkennen wollen, erscheint es mir notwendig, auch die Erinnerung an die Täter und sogar das Gedächtnis der Täter selbst wachzuhalten.