Janina Musiałczyk. W drodze, unterwegs
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Ein Stück jener anderen Welt
Mit der Ausreise aus Polen rückten Themen des Fortgangs, des Exodus, der zurückgelassenen und der vorüberziehenden Landschaften in den Mittelpunkt von Musiałczyks künstlerischem Schaffen und bestimmten es für die folgenden Jahrzehnte. Es erwies sich von Vorteil, dass sie zuvor schon in kleinem Format auf Papier gearbeitet hatte und nun in vorübergehenden und behelfsmäßigen Quartieren mit Serien von Zeichnungen weiterarbeiten konnte. An eigenen Werken hatte die Künstlerin nur weniges auf die Reise mitnehmen können. In einem der Zimmer in Malmö hing der vom Mieter der Wohnung erworbene und von ihr „gewebte Gobelin, ein Stück jener anderen Welt.“[55]
Unter dem Titel „’81 “ entstand im Jahr der Ankunft in Hamburg eine Folge von zurückgelassenen, sturmzerzausten Landschaften, die die Betrachtenden als Gesichter anschauen (Abb. 74 . ), ihnen als weibliche Körper gegenübertreten oder in denen sich Abgründe auftun.[56] Sie sind verwandt mit den „schauenden Steinen“, die die Künstlerin in ihrer ersten Wohnung in Hamburg-Steilshoop zu zeichnen begann und die zwei Jahre später immer mehr Wände bedeckten. Die Blätter zeigen Steine oder Findlinge mit unbewegten, geradeaus blickenden oder schräg gestellten Gesichtern, einsame, steinverwandte Wesen in freier, karger Landschaft, abgestürzt in Schluchten, als weibliche Körper aus dem Boden gewachsen oder in kastenartige Räume gesperrt, die einen in Trauer verharrenden, versteinerten Gemütszustand widerspiegeln.
Bis 1990 schuf die Künstlerin unter den Titeln „Geteilte Landschaft, gestaltete Landschaft“, „Hier und dort“ und „Menschen, Grenzen, Landschaften“ zahlreiche weitere gezeichnete Folgen in wechselnden Techniken, in denen sich landschaftliche Elemente und menschliche Figuren symbiotisch miteinander verbinden. Während die Titel auf den migrantischen Konflikt der Zugehörigkeit zu zwei verschiedenen Ländern und Kulturen verweisen, stehen sich in den Bildmotiven verschiedene Stadien der Verwurzelung in der Landschaft auf der einen Seite und des Ausgestoßenseins, der Entwurzelung und der Entfremdung auf der anderen Seite gegenüber.
Es sind vor allem weibliche Wesen, die als Engel mit gebrochenen Flügeln über der „geteilten Landschaft“ schweben (Abb. 4 . ) oder mit Blut verströmenden Beinen zwischen „Hier und dort“ (beide 1983, Abb. 15 . ) stehen. Sie verwandeln sich zu versteinerten Formationen der Landschaft, tief unter Ackerfurchen, zerzausten Bäumen, Dorflandschaften und Friedhöfen in der Erde eingegraben (1984, Abb. 9 . , 12–14 . ). Oder sie haben sich gegen die Gefahren des Lebens wie der Protagonist in Kafkas Novelle „Der Bau“ als meist schlafende „Wesen der inneren Erde“ [57] in Höhlen verschanzt und embryonal zusammengerollt (1986, Abb. 11 . ). Frausein ist eines der zentralen Themen in Musiałczyks Bildwelt.
Erdfarbene, versteinerte Gesichter mit geknebeltem Mund und verbundenen Augen erinnern an das Redeverbot während der Diktatur (1984, Abb. 2 . , 3 . ) und sind für alle Zeiten der Landschaft mit ihren Schluchten und Bäumen eingeschrieben (1984, Abb. 24 . ). Sie fallen als schreiende Kometen vom Himmel (1985, Abb. 55 . ), taumeln als „schauende Steine“ durch den Raum (Abb. 7 . ), bilden zusammen mit ihren Körpern schwere Felsformationen und verbergen sich in verkrümmter Gestalt in felsigem Sediment (alle 1986, Abb. 10 . , 16 . ). Schließlich werden sie, in tiefen Schluchten verborgen, selbst von herabfallendem Fels bedroht (1987, Abb. 73 . ).
[55] Zeichnungen und Texte 2001 (siehe Anmerkung 1), Seite 22.
[56] Weitere Beispiele zu den hier genannten Folgen finden sich auf der Webseite der Künstlerin, https://www.janinainkamusialczyk.de (zuletzt aufgerufen am 25.10.2023), unter dem Menü „Zeichnungen“.
[57] Franz Kafka: Der Bau (1923), in: Franz Kafka: Das Werk. Romane und Erzählungen, Frankfurt am Main 2010, Seite 941.