Janina Musiałczyk. W drodze, unterwegs
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Bilder der Ergriffenheit von Ereignissen, Erinnerungen und Träumen
Musiałczyk bildete ihren Mal- und Zeichenstil in einer Zeit aus, in der sich neue Formen der figurativen Kunst und des Realismus in den USA und in Europa in zahlreichen unterschiedlichen Ausprägungen etablierten. Ab Mitte der 1950er, spätestens Anfang der 1960er Jahre begannen Kunstschaffende, angeregt vor allem von Jean Dubuffet, als Gegenreaktion zum Abstrakten Expressionismus und zum Informel narrative figürliche Formen zu entwickeln. In der Folge einer Ausstellung mit dem Titel New Images of Man 1959 im Museum of Modern Art in New York, in der unter anderem Werke von Francis Bacon, Dubuffet, Alberto Giacometti, Leon Golub, Willem de Kooning, Nathan Oliveira und Germaine Richier zu sehen waren,[35] bezeichneten das im selben Jahr erschienene Buch „Neue Figuration“ des deutschen Malers und Kunstschriftstellers Hans Platschek und der 1961 von dem französischen Schriftsteller und Kunstkritiker Michel Ragon geprägte Begriff „Nouvelle figuration“ eine figürliche Kunst, die sich mit existenziellen Zuständen des Menschen, subjektiven Ängsten, gesellschaftlicher Vereinzelung, Grausamkeiten, Pessimismus und Katastrophen beschäftigte und die nicht zuletzt mit den sozialen und politischen Turbulenzen des Kalten Krieges in Verbindung gebracht wurde.
Formale Vereinfachung und Deformation der Figur, krampfhafte und ausladende Gestik, ihre Konfrontation mit Symbolen, düstere Farbwahl oder starke Farbkontraste waren prägende Stilmittel. Die Bildsujets schwankten zwischen Illusion und Realität, griffen zurück auf Munch, den Surrealismus und in engem Zusammenhang mit Dubuffet auf Kinderzeichnungen und Art brut. In der Folge entwickelten sich in den USA Pop Art und Fotorealismus, in Belgien, den Niederlanden und Dänemark mit der Gruppe COBRA eine farbig-expressive Richtung, in Westdeutschland mit der Gruppe Zebra ein Neuer oder Kritischer Realismus sowie der auf dem Surrealismus aufbauende Phantastische Realismus mit nationalen Ausprägungen in Österreich und Westdeutschland.
In Polen erfuhr der Konstruktivismus der 1920er Jahre nach dem Krieg eine Neuauflage und entwickelte eine starke, über Jahrzehnte anhaltende nationale Tradition. Der 1949 staatlich angeordnete Sozialistische Realismus wurde von dem Dramaturgen und Maler Tadeusz Kantor und von dem zunächst konstruktivistisch und seit 1928 in flächiger Abstraktion malenden Władysław Strzemiński bekämpft und 1955 offiziell wieder abgeschafft. Reisen ins westliche Europa und in die USA ermöglichten den polnischen Kunstschaffenden Verbindungen zur internationalen Avantgarde, wodurch auch in Polen die Neue Figuration als „Nowa figuracja“ Fuß fassen konnte. Kantor zeichnete einfache Menschen von der Straße in bedrängten Situationen.[36] Władysław Hasior gestaltete aus verschiedenen Materialien ein „Gruppenporträt“ in den Umrissen einer riesigen schwarzen Vogelscheuche.[37] Janusz Przybylski malte, beeinflusst von Bacon und Ronald B. Kitaj, in gesellschaftlichen Rollen und existenziellen Nöten gefangene Figuren.[38] Antoni Fałat zeigte seit seiner Teilnahme 1970 an der Ausstellung Polska figuracja, polski styl, polska egzotyka in der Warschauer Galeria MDM bildfüllende, schwarz-dominierte Einzel- und Gruppenporträts in theatralisch verfremdeten Situationen.[39]
[35] Peter Selz: New Images of Man, Ausstellungskatalog The Museum of Modern Art, New York 1959.
[36] Tadeusz Kantor: Człowiek zawieszony (dt. Aufgehängter Mann), 1960; Dzieci w wózku na śmieci (dt. Kinder in einem Abfallkarren), 1961; Chłopiec z gazetami (dt. Zeitungsjunge), Serie, 1968; alle Kunstmuseum Łódź/Muzeum Sztuki w Łodzi.
[37] Władysław Hasior: Portret zbiorowy (dt. Gruppenporträt), 1960er Jahre, Assemblage, 135 x 200 cm, Kunstmuseum Łódź/Muzeum Sztuki w Łodzi.
[38] Janusz Przybylski: Przy zamkniętych drzwiach (dt. Bei verschlossener Tür), 1971, Öl auf Leinwand, 190 x 110 cm (Teil eines Triptychons), Nationalmuseum Breslau/Muzeum Narodowego we Wrocławiu.
[39] Antoni Fałat: Cyklista (dt. Radfahrer), 1975, Acryl auf Leinwand, 110 x 90 cm, Nationalmuseum Warschau/Muzeum Narodowe w Warszawie.