Janina Musiałczyk. W drodze, unterwegs
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Der Traum vom verlorenen Koffer
Die Gründung einer freien Kunstschule im Jahr 1985 noch vor ihrer endgültigen Ansiedlung in Hamburg-Volksdorf ermöglichte der Künstlerin die Aussicht auf Erfüllung und ein neues Lebensziel. Sie baute seitdem nicht nur für Kinder und Jugendliche „eine Brücke zur Kunst“, sondern auch für Erwachsene, von denen einige ihren Unterricht in Zeichnung, Malerei und Komposition bis zu zwei Jahrzehnte lang besuchten und andere dort ihre künstlerische Laufbahn begannen oder ergänzen konnten.[65] „Gute Sachen entstehen nur“, so habe sie ihnen beigebracht, „wenn man Fehler macht, ausprobiert, über Grenzen geht und wagemutig ist. […] Das Auge muss das genaue Sehen lernen. Je mehr man entdeckt und aufspürt, desto interessanter wird die Welt.“[66]
Seit 1993 beschäftigte sie sich mit menschlichen Figuren, die sich nun nicht mehr psychisch erstarrt und eingezwängt zwischen Erdmassen und Felswänden befanden, sondern die unterwegs waren. Die getrennt oder zusammen losgingen und ankamen, auf ihren Wegen anderen begegneten, unsicher schwankten und taumelten zwischen hier und dort, die gemietete Räume bezogen und schließlich in vielfältigen Situationen lernen mussten, sich zu behaupten und miteinander zu kommunizieren.
Mit abstrahierten Umrissfiguren, die sich mit ihrer Vereinfachung, gelängten Proportionen und steifen Bewegungen der Karikatur nähern, schildert die Künstlerin in der Folge „Kommen, werden, gehen“ (1993, Abb. 32-39 . , 42 . ) das Drama der Migration. Menschen wandern allein, zu zweit, als Familien oder als Gruppen fest aneinandergebunden und mit anderen Personen im Schlepptau, mit Häusern und Städten im aufgeschulterten Gepäck als Last ihrer Erinnerungen, hinter sich Wagen mit Häusern und Kranken herziehend, auf verschlungenen Wegen durch leere Landschaften. Irgendwo angekommen, verschlingen sie Müdigkeit und Depression in schwarzer Nacht, während andere – man denke an Munchs „Tanz des Lebens“[67], der an einem Strand vor untergehender Sonne stattfindet – im Hintergrund auf offener Bühne tanzen (1998, Abb. 58 . ). Auch Klingers sinnende „Penelope“,[68] die vor einem Bild des Paradieses während der Irrfahrt ihres Gatten Odysseus Nacht für Nacht sein Totentuch webt, könnte als Vorbild gedient haben.
Unterwegs begegnen sich Menschen, die sich in dynamischer und emotionaler Konfrontation gegenüberstehen und sich seelisch und körperlich ineinander verstricken. Die gleichnamige Serie, „Begegnungen unterwegs“, aus schwarzweißen und farbigen Zeichnungen entstand in drei Folgen mit zeitlichen Abstand 1995/96, 1998 bis 2000 und 2011 bis 2013. Da sind Paare aus Männern und Frauen mit den untergeschnallten Rädern ihrer Flucht in stummer Konfrontation: mit der Bürde aus den Häusern und Städten ihrer Erinnerungen (Abb. 1 . ), nackt und über Kopf, durch Häuser getrennt (Abb. 60 . ), gegenüber und doch separiert durch das Haus, das sie auf ihrer Wanderung mitgenommen haben (alle 1995, Abb. 69). Sie jonglieren mit ihren Rädern, als wollten sie abwägen, was sie von ihrer eigenen Wanderung zu halten haben (beide 1996, Abb. 67 . , 68 . ).
Liebespaare, durch ein dünnes Band verbunden, sitzen Rücken an Rücken (Abb. 23 . ), prüfen sich verschlungen Auge in Auge (Abb. 52 . ) oder suchen jede für sich nach dem richtigen Weg (alle 1998, Abb. 53 . ). Der „Tanz des Lebens“ wird bei Musiałczyk zur Feier des Leiblichen, die alle Menschen in Liebe und fortlaufendem Wachsen, aber auch in Schmerz, Beklemmung und Zerfall verbindet (1999/2000, Abb. 18–20 . ). Aus ihr geht die Frau, ohnehin die zentrale Figur in Musiałczyks Lebensdrama, siegreich hervor als Judith mit dem Haupt des Holofernes, also als Überwinderin des Bösen, oder als Salome mit dem Haupt von Johannes dem Täufer, also als Verkörperung weiblicher Grausamkeit (alle 2000, Abb. 62 . ). Liebe und Glück scheinen zu bäuerlicher Rohheit reduziert (2011, Abb. 50 . ), von schwerer Erinnerungslast geplagt (2012, Abb. 51 . ) und zu unendlicher Einsamkeit erstarrt, in der jede und jeder in den eigenen Träumen verharrt (2013, Abb. 21 . ).
[65] Vergleiche hierzu die Erinnerungen an Musiałczyks Unterricht in der Freien Kunstschule in Hamburg von Burmeister, Saborowski und Storjohann unten im Anhang zu diesem Text.
[66] „Zu Besuch bei Künstlerin Janina Musialczyk“ 2019, siehe Anmerkung 34.
[67] Siehe Anm. 18.
[68] Max Klinger: Das Leuckart-Diplom (Penelope), 1895, Radierung, Stich und Aquatinta, 18,9 x 30 cm.