Waren sie wirklich „Rebellen“? Zur Münchner Ausstellung „Stille Rebellen. Polnischer Symbolismus um 1900“
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Unter dem Titel „Gelächter, Grauen und Melancholie“ (Saaltext: „Fantastische Welten“) ist das vorletzte Kapitel der Ausstellung einer Ausnahmeerscheinung der polnischen Kunst dieser Zeit, Witold Wojtkiewicz, und seinen Szenen mit Märchenfiguren, Clowns, Puppen und Spielzeug, aus dem Theater, dem Zirkus und dem Kinderleben gewidmet.[72] Während seiner kurzen Lebenszeit, die eine angeborene Herzkrankheit im Alter von 29 Jahren beendete, arbeitete er vor allem in Werkzyklen „aus rätselhaften Erzählungen und schlafwandlerisch-delirischer Poesie“, schuf Öl- und Temperabilder, Aquarelle, Lithographien und Federzeichnungen. Zeitgenossen beschrieben ihn als „großen Dichter, der sich mit perfekten malerischen Mitteln auszudrücken vermochte“ (Tadeusz Boy-Żeleński) und rückten seine balladenhaften und märchenhaften Bilder in die Nähe von Toulouse-Lautrec, Rops und Beardsley (Antoni Potocki).[73] Nach Studium in Warschau und Krakau unter anderem bei Pankiewicz und Wyczółkowski verkehrte er in der Krakauer Bohème und in literarisch-künstlerischen Kabaretts und arbeitete als Illustrator für verschiedene Zeitschriften.
Wojtkiewicz interessierte sich nicht für die verbreitete romantische Sicht auf die polnische Geschichte und die mit ihr verbundenen Mythen, sondern übte Kritik an gesellschaftlichen Normen und Moralvorstellungen. Seine Vorstellungswelt, so Agnieszka Rosales Rodríguez in ihrem Katalogbeitrag, „durchziehen Prozessionen trauriger Clowns und Pierrots, von Puppen und Marionetten, tragikomischen Figuren, die den spektakelhaften Schein des Lebens, die Leere, die Apathie und das Drama der menschlichen Existenz entlarven.“[74] Die Einsamkeit im Tanz des Lebens, welches von Melancholie, Mitleid, aber auch von Heuchelei, kalter Berechnung und Todesahnung durchdrungen ist, man denke an Edvard Munch, war eines seiner zentralen Themen. (Abb. 33 . ) Für ihn war die „Zirkusvorstellung kein magisches, von Naivität beherrschtes Gefilde der Kindheit, der Unschuld und des unbeschwerten Vergnügens, sondern ein Locus horridus, eine Metapher für das Leben, in dem Komödie und Tragödie miteinander verschmelzen.“[75] (Abb. 34 . ) Selbst eine Darstellung bäuerlicher Tätigkeit wie das Pflügen, die Künstler wie Wyczółkowski oder Chełmoński zu national-romantischen Symbolen umdeuteten,[76] wurde bei ihm zur marionettenhaft vereinfachten und deformierten Groteske, in der ein trauriger Clown hinter einem hölzernen Pferd hertrottet. (Abb. 35 . )
Etwas unvermittelt kehrt die Ausstellung im zehnten und letzten Kapitel unter der Überschrift „Glückliches Ende?“ (Saaltext: „Polonia“) auf die politische Dimension der polnischen Malerei und damit zum Beginn der Ausstellung zurück. Mit dieser offenbar rhetorischen Frage ist das von den Kunstschaffenden ins Bild gesetzte Thema gemeint, ob die Beendigung der Fremdherrschaft in Polen ein glückliches Ende nehmen würde. In der Historienmalerei bei Grottger und Matejko war die trauernd verhüllte und gefesselte „Polonia“ – Sinnbild der polnischen Nation ähnlich wie die „Marianne“ für Frankreich oder die „Germania“ für Deutschland – vor allem seit dem Januaraufstand von 1863/64 ein Standardmotiv. Während der darauffolgenden Jahrzehnte wurde diese Symbolfigur jedoch neu interpretiert, so Godetzky in seinem Katalogbeitrag.[77] Stand für Malczewski die visionär als „Inspiration“ (1897, Abb. 36 . ) erscheinende „Polonia“ richtungsweisend für sein eigenes Schaffen, so lässt er in dem Gemälde „Polnischer Hamlet“ (1903, Abb. 37 . links) den Maler Aleksander Wielopolski, Enkel eines Politikers, der den Ausgleich mit der russischen Besatzungsmacht suchte, mittels eines Abzählspiels an einer Margeritenblüte wählen, ob er sich für die alte, heruntergekommene und gefesselte „Polonia“ oder die junge mit den gesprengten Ketten entscheiden solle.
Auch andere Bildsujets sind als Allegorien für die polnische Nation gedeutet worden. Witold Pruszkowski zeigt eine als „Vision“ (1890) vor einer Prozession der polnischen Stände aufscheinende gekrönte weibliche Gestalt: wohl weniger eine „Polonia“[78] als vielmehr die Muttergottes als Beschützerin der polnischen Nation, wie sie auch im zugrunde liegenden Gedicht „Przedświt“ von Zygmunt Krasiński erscheint.[79] Das geheimnisvolle Schiff, das Ruszczyc auf seinem Gemälde „Nec mergitur“ (1904/05, Abb. 38 . ) zeigt, geht auf eine literarische Vorlage, nämlich auf die „Seemanns-Legende“ von Henryk Sienkiewicz zurück, wurde aber in patriotischem Sinn als Allegorie der polnischen Nation in unruhigen Gewässern interpretiert.[80] Ungewiss scheint auch die nationalromantische Deutung eines „Ritters inmitten von Blumen“ von Wyczółkowski (1904, Abb. 39 . ), der zwar mit polnischem Aufputz des 17. Jahrhunderts durch ein Tulpenfeld reitet, aber doch Märchenmotiven des Jugendstils aus anderen europäischen Ländern ähnelt.[81]
[72] Agnieszka Rosales Rodríguez: Gelächter, Grauen und Melancholie. Das malerische Theater des Witold Wojtkiewicz, in: Ausstellungs-Katalog Stille Rebellen 2022, Seite 231–239
[73] Ebenda, Seite 231 f.
[74] Ebenda, Seite 236
[75] Ebenda, Seite 237
[76] Leon Wyczółkowski: Pflügen in der Ukraine, 1892, Nationalmuseum Krakau, https://zbiory.mnk.pl/pl/wyniki-wyszukiwania/katalog/136944; Józef Chełmoński: Pflügen, 1896, Nationalmuseum Poznań, https://fundacjaraczynskich.pl/wp-content/uploads/2012/01/FR-17.jpg
[77] Albert Godetzky: Glückliches Ende? Das sich stetig wandelnde Bild der „Polonia“, in: Ausstellungs-Katalog Stille Rebellen 2022, Seite 265
[78] Ebenda
[79] Vergleiche Leszek Lubicki: Muzeum Narodowe w Poznaniu. 10 dzieł, które warto znać, auf: Fundacja Promocji Sztuki „Niezła Sztuka”, https://niezlasztuka.net/o-sztuce/muzeum-narodowe-w-poznaniu-10-dziel-ktore-warto-znac/
[80] Ausstellungs-Katalog Stille Rebellen 2022, Seite 271
[81] Vergleiche Heinrich Vogeler: Am Heiderand, 1900. Öl auf Leinwand, Privatbesitz Berlin (Leihgabe Barkenhoff, Heinrich-Vogeler-Museum, Worpswede); Carl Otto Czeschka, Illustrationen zu: Die Nibelungen, Gerlachs Jugendbücherei, Band 22, Wien, Leipzig 1908/09