Waren sie wirklich „Rebellen“? Zur Münchner Ausstellung „Stille Rebellen. Polnischer Symbolismus um 1900“
Mediathek Sorted
Mit dem Kapitel „Verborgene Kräfte“ kehrt die Ausstellung zu einem polnischen Sonderweg zurück und diskutiert den Rückgriff auf „Mythen“, so der Saaltext, der polnischen Geschichte und die bewusste Mythisierung der polnischen Kultur, historischer Fakten und Personen durch die Malerei.[45] Ähnlich wie die heimatliche Landschaft galt auch das traditionelle bäuerliche Leben als wiederkehrender Topos für das Nationalbewusstsein der nicht über einen eigenen Staat verfügenden Nation. Ein kindlicher Satyr, der einem Bauernmädchen auf der Panflöte vorspielt („Kunst auf dem Gutshof“, 1896) und eine Göttin aus dem Reich der Toten im Harnisch und mit einer Sense, die einem betenden Bauern die Augen schließt („Der Tod“, 1902, Abb. 17 . ), beides Gemälde von Malczewski, heben das polnische Bauerntum in die Sphäre eines das Ursprüngliche und das ewig Gültige verklärenden Mythos. Wojciech Weiss gestaltete eine visionäre und ins Dynamische gesteigerte Szenerie, in der „Vogelscheuchen“ (1905), ebenfalls Sinnbild für urtümliches bäuerliches Leben, hinter einer barfüßigen Hirtin herjagen.
Gegenstand der Mythologisierung wurde auch die weibliche Allegorie der Polonia, der Personifizierung Polens, die sich bei Malczewski auf freiem Feld in einer „Staubwolke“ (1893–1895, Abb. 18 . ) mit gefesselten Händen und in einem schnellen Wirbel vom Boden erhebt und ihre Kinder unter sich zurücklässt. Darüber hinaus malte der Künstler zahlreiche Bilder mit mythologischen Szenen und Einzelfiguren, die durch die polnische Literatur der Romantik verbreitet worden waren und aus lokalen Legenden, Märchen und religiösen Quellen stammten. Die Tragödie „Lilla Weneda“ (1839/40) von Juliusz Słowacki ebenso wie Untersuchungen zeitgenössischer Historiker, die einen Ursprung Polens bei den Kelten sahen, verleiteten ihn zu dem Porträt des Wenenden-Königs „Derwid“ (1902, Abb. 19 . ), der von seinen Feinden geblendet wurde und den Klängen der von ihm geraubten magischen Harfe lauscht. Auch Wyczółkowski folgte dieser Mythologie und malte einen „Versteinerten Druiden“ (1894), den man an einem weiteren mythologischen Ort, einem Berg in der Tatra, verortete. Dessen Gemälde „Sarkophage“ (1895) erweckte die königlichen Reliefporträts von Kasimir dem Großen und Hedwig von Anjou in der Wawel-Kathedrale soweit zum Leben, dass ihre Wiederkehr bevorzustehen schien. Anders als die Maler des Historismus, die mythologische Themen durch eher unbewegte Alltagsszenen darstellten, versah man derartige Inhalte jetzt mit so vielen kontextuellen, emotionalen und gestalterischen Ebenen, dass sie eine neue Begeisterung für das Volkstümliche und Nationale auslösen konnten.
Auch jenseits jeder Mythologisierung galten das Landvolk, seine lebendigen Traditionen und eine tief empfundene Religiosität als Hauptstützen des polnischen Nationalbewusstseins. Der Katholizismus hatte für den führenden Philosophen und Literaturkritiker Stanisław Brzozowski die Funktion einer ordnenden Kraft sowohl für den Einzelnen als auch für das Leben der kulturellen Gemeinschaft. Die Religion sei eine „übernatürliche, übermenschliche Tatsache … ein lebendig Ding“, so auch der Titel des sechsten Kapitels der Ausstellung (Saaltext: „Tradition und Religion“).[46] Für zahlreiche Kunstschaffende, katholische ebenso wie jüdische, war die „Volksreligiosität ein Beispiel für die lebendige Kraft der Tradition“.[47] Zu den von ihnen gepflegten Bildsujets gehören Ansichten aus Gotteshäusern (Wyczółkowski: „Christus am Ölberg“, 1896), betende und in Andacht versunkene Menschen (Aleksander Grodzicki: „Betender Jude“, 1893) ebenso wie die stumme Szene eines schmerzerfüllten Elternpaars von Aleksander Gierymski, das neben dem kreuzgeschmückten Deckel eines Kindersargs vor seiner Bauernkate sitzt („Der Bauernsarg“, 1894, Abb. 20 . ). Hofman, der außer bei Malczewski um die Jahrhundertwende auch in Paris an der École des beaux-arts bei dem schon sehr alten Spätklassizisten und Orientalisten Jean-Léon Gérôme studiert hatte und nichts weniger als eine Erneuerung der religiösen Kunst anstrebte, malte einen knienden Bauern, der auf freiem Feld vor einer verwitterten Christusfigur die „Beichte“ (1906) ablegt.[48]
[45] Nerina Santorius: Verborgene Kräfte. Mythen und Mythisierung in der polnischen Malerei um 1900, in: Ausstellungs-Katalog Stille Rebellen 2022, Seite 129–137
[46] Agnieszka Skalska: „Ein lebendig Ding“. Zur Tradition und Religion in der Malerei des Jungen Polen, in: Ausstellungs-Katalog Stille Rebellen 2022, Seite 153–161
[47] Ebenda, Seite 153
[48] Abbildung auf dem digitalen Sammlungsportal des Nationalmuseums Warschau, MN Cyfrowe, https://cyfrowe.mnw.art.pl/pl/katalog/508015