Waren sie wirklich „Rebellen“? Zur Münchner Ausstellung „Stille Rebellen. Polnischer Symbolismus um 1900“
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Als typische Vertreter des polnischen Symbolismus nennt Charazińska Malczewski, Mehoffer und Wyspiański, Schüler von Matejko in Krakau, während sich Tetmajer, ebenfalls Matejko-Schüler, und Axentowicz mit ihren farbenfrohen Hochzeiten, Prozessionen und Erntefesten in idyllischer Landschaft mit dem polnischen Landvolk solidarisierten und ihm heroisch-mythologische Züge verliehen: „Im pathetischen Ernst der ländlichen Rituale und Feste sah man eine Widerspiegelung der Weltordnung und pries die polnische Dorflandschaft als ein Gefilde der Seligen, das verlorene Paradies.“ Ihnen folgten die Lemberger Künstler Władysław Jarocki und Kazimierz Sichulski.[19] Ferdynand Ruszczyc und Krzyżanowski „führten den Betrachter ‚in das Innere‘ einer Landschaft“, in der Leere herrschte und in der man „Einsamkeit, Verlorensein, Angst, ja sogar Grauen“ empfinden konnte. Sie brachten, so Charazińska, die „Existenzängste der Menschen ihrer Epoche“ metaphorisch in Landschaftsbildern zum Ausdruck.[20] Im Überblick arbeitete Charazińska vier Gruppen von Künstlerinnen und Künstlern heraus: solche, die sich mit einem wesentlichen Teil ihres Werks dem Impressionismus oder dem Symbolismus zuordnen ließen, jene, die als Teil des „Jungen Polen“ keiner der beiden Gruppen angehörten und solche, die den Themenkanon des Symbolismus um neue Themenbereiche erweiterten.
Die Münchner Ausstellung „Stille Rebellen“ baut sowohl hinsichtlich der Auswahl der Kunstwerke als auch der vergleichenden Abbildungen in den Katalogtexten auf den vorangegangenen Ausstellungen in Detroit und Baden-Baden und auf nachfolgenden Schauen 1993 in Raleigh und Chicago, 1996 in Rapperswil, 2001 in Brüssel, 2003 in Madrid, 2007/08 in Dublin und schließlich 2018 in Göteborg auf, will aber konzeptionell darüber hinausgehen, indem sie nicht historisch oder nach Künstlerpersönlichkeiten, sondern nach Themenbereichen gliedert. Ihr wichtigstes Anliegen sei es jedoch, so Albert Godetzky und Nerina Santorius in der Einleitung zum Katalog, „das Publikum in Deutschland mit dem Thema vertraut zu machen“, da „die polnische Kunst in der deutschen Öffentlichkeit immer noch vergleichsweise unbekannt ist“.[21]
Da verwundert es schon, dass der Untertitel „Polnischer Symbolismus um 1900“ für die sowohl zeitlich als auch thematisch breit angelegte Epoche ab Chełmońskis „Altweibersommer“ von 1875 (Abb. 7 . ) oder Pruszkowskis „Beichte des Madej“ von 1879 und den 1918 entstandenen Kinderbildern „Krippenspiel“ und „Frühling“ von Wlastimil Hofman (Abb. 14 . ) hinter der differenzierten Terminologie von Charazińska im Baden-Badener Katalog zurückbleibt; zumal die Bewegung „Junges Polen“ offenbar gar nicht „zu Beginn dieser Periode entstand“, wie in der Einleitung zu lesen ist, sondern als Terminus erst 1898 von dem Literaturkritiker Artur Górski in einem programmatischen Artikel über die Literatur jener Epoche geprägt wurde.[22] Eine Erweiterung der konzeptionellen Ansätze der Münchner Ausstellung bestehe außerdem darin, dass sie „stille Rebellionen an zahlreichen Fronten … nicht nur in Opposition zu politischer Unterdrückung, sondern auch in Abkehr von etablierten künstlerischen Traditionen“[23] aufzeigen wolle. Ob der Obertitel „Stille Rebellen“ tatsächlich so unterschiedliche Persönlichkeiten wie den „Malerfürsten“ Jan Matejko oder die Grande Dame der polnischen und französischen Malerei Olga Boznańska charakterisieren kann, muss sich erst noch erweisen.
Das erste Kapitel der Ausstellung mit dem Katalogtext „Pflicht und Freiheit“ und den weniger pointierten Saaltexten „Ernste Narren“ (Raum 1) und „Die Kunstzentren Krakau und Warschau“[24] (Raum 2, Abb. 4 . ) dokumentiert zunächst den Stand der polnischen Malerei zwischen 1862 und 1875 mit ihren wichtigsten Vertretern, Jan Matejko in Krakau und Wojciech Gerson in Warschau. Diese fungieren in der Ausstellung bereits als „stille Rebellen“, deren Kunst sich als gewaltfreier Protest gegen die Besatzungsmächte Preußen, Russland und Österreich richtete und als Verteidigung und Pflege der polnischen Kultur gelten konnte.[25] In Krakau, wo Matejko seit 1873 als Direktor der Schule der Schönen Künste/Szkoła Sztuk Pięknych und ab 1875 als Leiter des Fachbereichs Kunst an der Schule für Höhere Frauenkurse/Wyższe kursy dla kobiet tätig war, „war die Politik der österreichischen Behörden weniger repressiv, was eine gewisse Autonomie der Stadt und bessere Möglichkeiten für den Aufbau einer künstlerischen Infrastruktur mit sich brachte“, wie Agnieszka Bagińska im entsprechenden Katalogessay schreibt.[26] Fußend auf der polnischen Dichtkunst der Romantik und auf kunsttheoretischen Bestrebungen der folgenden Jahrzehnte verstand Matejko die von ihm gepflegte Historienmalerei, mit der er Szenen aus der polnischen Geschichte des 16. und 17. Jahrhunderts dramatisch, figurenreich und in monumentalen Formaten ins Bild setzte, als Pflicht gegenüber dem Heimatland und dessen Gesellschaft, betonte „immer wieder die Verbindung zwischen Kreativität und patriotischen Gefühlen“ und sah sich selbst als „Prophet und Lehrer der Nation“.[27] Das ging so weit, dass er in seinen Gemälden historische Figuren miteinander kombinierte, die niemals aufeinander getroffen waren, und ausgewählte polnische Aristokraten so positionierte, dass sie als Vaterlandsverräter identifiziert werden konnten. Aufgabe der Historienmalerei war nach seiner Auffassung die Ausdeutung der Bildsujets aus der Perspektive der Gegenwart, auch wenn sich der Maler dadurch der Kritik der aristokratischen Familien ausgesetzt sah.
War der „Malerfürst“ Matejko, der sich mit seiner Familie in seinem 1872 modernisierten und repräsentativ aufgewerteten Elternhaus in der Krakauer Altstadt komfortabel eingerichtet hatte, durch seine Kunst schon ein „Rebell“? Er und seine Frau führten ein mondänes gesellschaftliches Leben und setzten ihre Kinder in aristokratischen Kostümen und Posen in Szene. 1878 wurde der Maler im Rathaussaal der Stadt vor seinem rund vier mal zehn Meter messenden Historiengemälde „Die Schlacht bei Grunwald“ mit einem zuvor vom Bischof gesegneten Zepter „zum Zeichen seiner Herrschaft im Reiche der Kunst“[28] ausgezeichnet. 1880 empfing er Kaiser Franz Joseph von Österreich in seinem Haus und schenkte dem Monarchen sein im Jahr zuvor entstandenes Gemälde „Die Zusammenkunft der Jagiellonen-Könige mit Kaiser Maximilian bei Wien“. 1867 erhielt Matejko das Ritterkreuz des Franz-Joseph-Ordens, 1887 die Medaille Pro litteris et artibus des österreichischen Kaiserhauses. Bei seinem Leichenzug am 1. November 1893 betrauerten ihn Tausende und trugen ihn „mit wahrhaft königlichen Ehren“ zu Grabe, „denn er war ein Fürst der Kunst und dazu ein echter, wahrer Pole, der die Freiheitsideale seines Volkes in seiner Seele trug, der nie vergaß, dass er ein Sohn des Landes ist, das sich für das unglücklichste hält auf Erden“, wie die in Wien erscheinende Wochenzeitung Das interessante Blatt schrieb.[29]
[19] Ebenda, Seite 25
[20] Ebenda, Seite 33 f.
[21] Albert Godetzky/Nerina Santorius: Einleitung, in: Ausstellungs-Katalog Stille Rebellen 2022, Seite 14; Auflistung vorangegangener Ausstellungen in den dortigen Anmerkungen 2 bis 5
[22] Elżbieta Charazińska 1997 (siehe Anmerkung 15), Seite 27
[23] Godetzky/Santorius (siehe Anmerkung 21), Seite 14
[24] Alle Saaltexte sind im digitalen Rundgang durch die Ausstellung verfügbar: https://www.kunsthalle-muc.de/ausstellungen/stille-rebellen-digital/.
[25] So eine der Kuratorinnen der Münchner Ausstellung, Nerina Santorius, Kuratorin an der Kunsthalle München, im Interview mit dem Internet-Portal culture.pl: „Tytuł wystawy można czytać na kilku poziomach. Cicha rebelia to pozbawiony przemocy protest przeciwko okupantom poprzez sztukę, obrona i kultywowanie polskiej kultury, ale także bunt nowego pokolenia artystów Młodej Polski przeciwko akademickiemu malarstwu historycznemu reprezentowanemu przez Jana Matejkę i Wojciecha Gersona, kwestionowanie patriotycznych zobowiązań artysty połączone z pragnieniem artystycznej wolności.“ (Agnieszka Bagińska, Nerina Santorius: Docenić lokalne odcienie symbolizmu [wywiad], https://culture.pl/pl/artykul/agnieszka-baginska-nerina-santorius-docenic-lokalne-odcienie-symbolizmu-wywiad)
[26] Agnieszka Bagińska: Pflicht und Freiheit, in: Ausstellungs-Katalog Stille Rebellen 2022, Seite 24
[27] Ebenda, Seite 25
[28] Matejko-Feier, in: Die Presse, Wien, 31.10.1878, Seite 10, Online-Ressource: https://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=apr&datum=18781031&seite=10&zoom=33
[29] Das Leichenbegängniß Jan Matjko’s in Krakau, in: Das interessante Blatt, XII. Jahrgang, Nr. 47, Wien, 23.11.1893, Seite 4 f.; Online-Ressource: https://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=dib&datum=18931123&seite=4&zoom=33