Waren sie wirklich „Rebellen“? Zur Münchner Ausstellung „Stille Rebellen. Polnischer Symbolismus um 1900“
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Der in Bologna lehrende Ästhetik-Professor und Kunsthistoriker Renato Barilli beschrieb 1967 den Symbolismus als kulturelle Bewegung, die sich im Frankreich der 1880er- und 90er-Jahre aus der Literatur von Baudelaire, Verlaine, Rimbaud und Mallarmé herleitete und zu der Jean Moréas in der Literaturbeilage des Figaro im Herbst 1886 das erste Manifest lieferte. Der Symbolismus wolle, so Moréas, der „Idee“ eine Form verleihen und Charles Morice ergänzte, die Versöhnung zwischen dem Geist und den Sinnen, von Wahrheit und Schönheit, Glaube und Freude, Wissenschaft und Kunst bewirken und nicht zuletzt „ein fruchtbares Bündnis zwischen Naturwissenschaft und Metaphysik“ knüpfen.[6] In der Malerei erkannte Barilli die „Idealisten“ Puvis de Chavannes und Moreau als Vorläufer, verortete die Anfänge des Symbolismus bei Carrière und Redon und spannte dann einen weiten Bogen über Seurat, Gauguin, Bernard und die Schule von Pont-Aven, van Gogh und die Nabis bis zum Art Nouveau mit Toulouse-Lautrec, Mucha und Grasset.
Der Kunstschriftsteller Edward Lucie-Smith führte in seinem 1972 in London erschienen Buch „Symbolist Art“ die entsprechende britische Bewegung auf die Romantik mit William Blake und die Präraffaeliten Millais, Holman Hunt und Rossetti zurück, fand den eigentlichen Ursprung des Symbolismus aber ebenfalls in der französischen Literatur, insbesondere bei Joris-Karl Huysmans, der durch die Gemälde von Moreau und Redon in seinen Romanen „À rebours“ (1884) und „Là-bas“ (1891) zur Erforschung von Dekadenz und Satanismus angeregt wurde. Mallarmé hingegen habe das Verständnis der Welt sowohl aus der Mehrdeutigkeit ihrer Erscheinungen und Symbole als auch aus astrologischen und alchemistischen Vorstellungen heraus abgeleitet um schließlich aus diesen Elementen eine neue, in sich selbst ruhende Realität zu erschaffen.[7]
Die Ausstellung „Symbolismus in Europa“ schließlich zeigte über 260 Werke aus 15 Nationen, darunter auch aus Polen. Die fast ausschließlich figürlichen Sujets waren danach ausgewählt, dass sie nach der Definition von Moréas „Vorstellungsbilder und Formen“ zeigen sollten, „in denen die Mehrdeutigkeit und Vielgestaltigkeit der Idee … zusammengefasst werden“: „Die Suche nach dem verborgenen Sinn und der geheimen Bedeutung in der ‚Erscheinung des Wirklichen‘ brachte die Symbolisten zu mehr oder weniger abenteuerlichen ‚Forschungsreisen‘ durch Raum und Zeit, zu Grabungen in den Minen des Unbewussten […] Die Symbolisten versuchten, aus dem Alltäglichen die geistige Botschaft herauszulesen und sie nicht im natürlichen Licht, sondern in der Aureole einer Offenbarung zu zeigen.“[8] Hofstätter ergänzte: „Auch von den Symbolisten wurde versucht, was das Christentum von Anfang an unternommen hatte: durch die Vorstellung einer jenseitigen Welt sowohl eine Sinndeutung der diesseitigen Welt als auch eine Hoffnung auf Befreiung und Erlösung von ihren Mühsalen zu geben.“[9] Polen war mit Werken („Der Wirbelwind“, heute: „In der Staubwolke“, 1893–1895, Abb. 18 . ; „Thanatos“, um 1898/99) von Jacek Malczewski vertreten, der in der Münchner Ausstellung mit zahlreichen Arbeiten repräsentiert ist, dann mit einem Gemälde („Der merkwürdige Garten“, 1903) von Józef Mehoffer, von dem in München das Bildnis seiner Ehefrau vor einem Pegasus (1913, Abb. 27 . ) gezeigt wird, und mit dem Tempera-Gemälde „Meditationen“ (1908) von Witold Wojtkiewicz, dem in München ein ganzes Kapitel gewidmet ist.
In Polen hatten sich in der kunsthistorischen Forschung Epochenbegriffe entwickelt, die sich zu denen im westlichen Europa unterschieden. Insgesamt neigte man dazu, die Zeit um die Wende zum 20. Jahrhundert mit einer einheitlichen Bezeichnung zusammenzufassen. Hatten sich Termini wie „Fin de Siècle“ oder „Belle Époque“ als zu engmaschig erwiesen, so Agnieszka Morawińska 1984 im Katalog der Ausstellung „Symbolism in Polish Painting 1890–1914“ im Detroit Institute of Arts (und 1987 erneut auf Polnisch im Jahrbuch des Warschauer Nationalmuseums), so einigte man sich zuletzt auf den historischen Begriff „Junges Polen/Młoda Polska“ oder präferierte den von Sven Lövgren[10] für diese Zeitspanne verwendeten englischen und ins Polnische übertragenen Terminus „Modernizm“. Letzterer habe sich jedoch ebenfalls als ungeeignet erwiesen, da er außerhalb Polens zunehmend für die „experimentelle Kunst des 20. Jahrhunderts“[11] verwendet worden sei. Bei der Konzeption der Detroiter Ausstellung war man sich der engeren und auf Moréas fußenden Definition des Symbolismus durch Hofstätter und die Ausstellung „Symbolismus in Europa“ durchaus bewusst. Dennoch entschied man sich bei der Beschreibung der inhaltlich weiter gefassten Epoche einer polnischen „Gedanken-“ oder (im Deutschen verständlicher zu übersetzenden) „Ideenmalerei/Malarstwo myśli“ für die Zeit nach Matejko ebenfalls für den Begriff „Symbolismus“ um, so Morawińska, das begriffliche Chaos nicht noch weiter zu vertiefen.
[6] Renato Barilli: Symbolismus [Mailand 1967], München 1975, Seite 8
[7] Edward Lucie-Smith: Symbolist Art, London: Thames and Hudson 1972, Seite 51–55
[8] Franco Russoli: Bildvorstellungen und Darstellungsformen des Symbolismus, in: Symbolismus in Europa, Ausstellungs-Katalog Staatliche Kunsthalle Baden-Baden 1976, Seite 18 f.
[9] Hans H. Hofstätter: Die Bildwelt der symbolistischen Malerei, in: Symbolismus in Europa 1976 (siehe Anmerkung 8), Seite 13
[10] Sven Lövgren: The Genesis of Modernism. Seurat, Gauguin, van Gogh and French Symbolism in the 1880’s [Uppsala, Stockholm 1959], New York 1983
[11] Agnieszka Morawińska: Polish Symbolism, in: Symbolism in Polish painting 1890–1914, Ausstellungs-Katalog The Detroit Institute of Arts, Detroit 1984, Seite 13–35; erneut als: Polski Symbolizm, in: Rocznik Muzeum Narodowego w Warszawie, Band 31, Warschau 1987, Seite 467–498, Zitat Seite 467, Online-Ressource: https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/roczmuzwarsz1987/0471/image,info#col_text_ocr