Waren sie wirklich „Rebellen“? Zur Münchner Ausstellung „Stille Rebellen. Polnischer Symbolismus um 1900“
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„In der Bauernschaft sahen die Modernisten die Überlebenskraft der Nation in Zeiten der Unfreiheit. Mithilfe der Bauern als Verkörperung der ursprünglichen slawischen Kultur, die den Künstlern als Vorbild dienen sollten, strebte man die Erneuerung der Kunst an.“[49] Die zeitgenössischen Forderungen nach einem neuen, volkstümlichen Sinn für Farbe und Linie, der sich nicht nur in der Malerei, sondern auch im Zierrat der Architektur, dem Kunstgewerbe und der Mode wiederfinden sollte und die der Kritiker Artur Górski bei dem Maler Włodzimierz Tetmajer verwirklicht fand, entsprachen durchaus ähnlichen Volkskunst-Bewegungen in Skandinavien und Deutschland. Tetmajer ebenso wie Axentowicz, die beide in München studiert hatten und von dort eine Prägung für die volkstümlichen Themen des Bayerischen und Alpenländischen mitbrachten, malten in Polen farbenfrohe Hochzeitsprozessionen, Szenen am Gasthaus und bei katholischen Festen, Fest- und Trauerzüge, tanzende Menschen und aufspielende Musiker aus Bronowice bei Krakau (Abb. 21 . ), wo Tetmajer sich niederließ, eine Bauerntochter heiratete und sich eine eigene Künstlerkolonie bildete. Ebenso wurden die Einheimischen des Karpatenhochlands, die Huzulen (Abb. 22 . ) und die Menschen der Podhale „zu Symbolen des volkstümlichen Vitalismus der neuen polnischen Kunst erhoben“.[50] Kazimierz Sichulski und Władysław Jarocki, beide Schüler von Mehoffer und Wyspiański, verbrachten mehrere Monate in Tatariw in den Waldkarpaten, waren fasziniert von den Trachten und Bräuchen der Einheimischen und malten nicht nur die traditionellen Hochzeiten, sondern auch monumental wirkende Einzelporträts (Abb. 23 . linke Wand).
Während der Symbolismus im vorangegangenen Beitrag über Religion und Tradition gar keine Erwähnung findet, bemüht sich Michał Haake im siebten Kapitel der Ausstellung, „Tête-à-Tête mit dem Porträt“ (Saaltext: „Porträts“), symbolistische Tendenzen in der polnischen Bildniskunst der Jahrhundertwende herauszuarbeiten.[51] Das ist umso bemerkenswerter, als die Münchner Ausstellung dieses Thema anhand bedeutender polnischer Beispiele belegen kann (Abb. 24 . ), während die frühen Untersuchungen von Hofstätter, Lucie-Smith und die Ausstellung „Symbolismus in Europa“ das Thema nicht in eigenen Kapiteln, sondern nur am Rande behandelten. Da sich der Symbolismus, so Haake, in besonderem Maße als Fähigkeit der Kunstschaffenden herausgestellt habe, in übersinnliche, metaphysische, geheimnisvolle und spirituelle Tiefen vorzudringen, „die sich weder mit dem Verstand erfassen, noch mit der Sprache beschreiben lassen“,[52] scheint es folgerichtig, dass sich diese Tendenzen auch in Bildnissen der Zeit wiederfinden.
Das überlegen-distanzierte „Selbstbildnis in spanischer Tracht“ (1911, Abb. 24 . links) von Edward Okuń hat möglicherweise nur anekdotischen Charakter, da der Künstler zuvor eine Ausstellung des spanischen Malers Ignacio Zuloaga gesehen hatte. In dem 1896 entstandenen Selbstbildnis von Julian Fałat (Abb. 24 . Mitte links), der seit dem Vorjahr die Krakauer Kunstakademie leitete und diese grundlegend reformierte, steht der tiefgründige und nachdenkliche Gesichtsausdruck des bei der Arbeit gestörten Malers gegen dynamische Elemente wie die bewegte Palette, eine schräg über die Leinwand führende blauweiße Spur im Schnee und die laufenden Hunde am oberen Bildrand, wodurch verschiedene psychische Ebenen sichtbar werden. Bei Malczewski, dem Protagonisten des polnischen Symbolismus, begleiten den Maler und andere Porträtierte die für ihn typischen „fantastischen Kreaturen aus der Mythologie und der romantischen Poesie“,[53] im Selbstbildnis „Auf einer Saite“ (1908, Abb. 25 . ) die bekannte Totengöttin im Harnisch, auf dem Bildnis des Lyrikers Adam Asnyk (1899, Abb. 24 . rechts Mitte) eine Gruppe Flöte spielender Satyrn und in dem 1902 entstandenen „Selbstbildnis mit Tod“ (1902, Abb. 24 . rechts) eine weibliche Figur, die einen umkränzten Totenkopf hält.
Weiss malte im Jahr 1900 ein „Selbstbildnis mit Masken“ (Abb. 26 . , man denke an das ein Jahr früher entstandene Gemälde „Mein Porträt von Masken umgeben“ des belgischen Symbolisten James Ensor[54]), über das er vorab seinen Eltern schrieb: „In mir brodelt Paris. Tausende verschiedene Rassen, Leidenschaften, Typen. Daher die Masken im Arm – eine Maskerade der Gefühle. Im Vordergrund die Maske einer Frau, einer diabolischen Frau, die aus reinem Vergnügen tötet.“[55] Ganz unter dem übermächtigen Einfluss einer sich möglicherweise schon auflösenden Religiosität zeigt Wyczółkowski den bedeutenden und nicht unumstrittenen Kunstkritiker und Sammler „Feliks Jasieński an der Orgel“ (oder besser am Harmonium, 1902) als auffällig kleine Figur unterhalb einer kaum mehr sichtbaren Beweinung Christi und einer fragmentierten Skulptur des Gekreuzigten aus Jasieńskis eigener Sammlung.[56] Vor dem Hintergrund eines Pegasus, mythologisches Sinnbild der Dichtkunst, dessen Hufschlag die zu Gesang und Poesie anregende Quelle Hippokrene hervorlockte, malte Mehoffer eines der zahlreichen Bildnisse seiner Ehefrau Jadwiga (Abb. 27 . ), geborene Radzim-Janakowska, selbst Malerin, die er in Paris kennen gelernt hatte und von der er sagte, dass sie „nie vom Sockel der Einzigartigkeit und Originalität herabsteigen“[57] würde. Auch wenn es sich bei dem Fond des Bildes vermutlich um einen tatsächlich existierenden Wandfries gehandelt haben dürfte, verleiht Mehoffer dem sprechenden Ausdruck und lebendigen Inkarnat der Porträtierten mit seiner Komposition eine Sphäre höchster intellektueller Weihen.
[49] Agnieszka Skalska 2022 (siehe Anmerkung 46), Seite 154
[50] Ebenda, Seite 157
[51] Michał Haake: Tête-à-Tête mit dem Porträt. Die Erneuerung der polnischen Bildniskunst an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, in: Ausstellungs-Katalog Stille Rebellen 2022, Seite 179–187
[52] Ebenda, Seite 181
[53] Ebenda
[54] James Ensor: Mein Porträt von Masken umgeben, 1899. Öl auf Leinwand, 120 x 80 cm, Privatsammlung Antwerpen; Symbolismus in Europa 1976 (siehe Anmerkung 8), Seite 66 f.
[55] Ausstellungs-Katalog Stille Rebellen 2022, Seite 199
[56] Abbildung auf dem digitalen Sammlungsportal des Nationalmuseums Krakau, MNK Zbiory Cyfrowe, https://zbiory.mnk.pl/pl/wyniki-wyszukiwania/katalog/142860
[57] Józef Mehoffer: Dziennik [Tagebuch], herausgegeben und kommentiert von Jadwiga Puciata-Pawłowska, Krakau 1975, Seite 422